Berlin: In letzter Minute
Am Tag der Urabstimmung entschied die Charité, weiter zu verhandeln. Fast 100 Prozent sind für Streik
„Würden Sie sich bei einem Piloten in die Maschine setzen, der schon fast 24 Stunden Dienst hinter sich hat?“ Die Antwort auf diese rhetorische Frage liege auf der Hand, meint der Oberarzt in Weißblau in der Charité. Er müsse sich noch nach fast zwanzig Stunden in den OP stellen und Menschen am offenen Herzen operieren. Deswegen war es für den Herzchirurgen klar, was er am Donnerstag auf dem Zettel bei der Urabstimmung ankreuzt: Ja zum Streik. Rund 2000 Ärzte und wissenschaftliche Mitarbeiter der drei Standorte des Universitätsklinikums sind als Mitglieder des Ärzteverbandes Marburger Bund stimmberechtigt. Die Tendenz gestern Abend war deutlich: Nach der ersten Auszählung sprachen sich 97,6 Prozent für einen Streik aus – 75 Prozent hätte es bedurft, damit am Montag der Arbeitskampf beginnen kann.
Eine Chance aber gibt es noch, den Ausstand abzuwenden. Gestern kündigte der Charité-Vorstand überraschend ein neues Angebot an. Deshalb sollen die eigentlich für gescheitert erklärten Tarifverhandlungen heute fortgesetzt werden. Das Angebot sei gegenüber dem vom Marburger Bund am 10. April als unannehmbar abgelehnten Vorschlag nachgebessert worden, sagt Unternehmenssprecherin Kerstin Endele. „Der Vorstand wird alles tun, um einen Streik noch abzuwenden.“
Offenbar habe allein der Druck der Urabstimmung den Vorstand zur Nachbesserung seines Angebotes bewogen, sagt Manfred Husmann, Geschäftsführer des Berliner Landesverbandes des Marburger Bundes. „Wir stehen für ein weiteres Gespräch zur Verfügung.“ Allerdings sei das Vertrauen in den Vorstand zu oft enttäuscht worden. „Wenn wir am Freitag nicht zu einer Einigung kommen, beginnt am Montag der Streik.“ Der Arbeitskampf sei ausdrücklich auf eine unbefristete Dauer angelegt, sagte Husmann.
Die Ärzte sind bereits auf Streik eingestellt. Im Foyer der Mensa der Charité in Mitte bewacht der Arzt Christian Althoff die Urne. Seine Kollegen müssen ein Formular ausfüllen, dann den Lichtbildausweis vorlegen, damit der Name auf der Mitgliedsliste des Marburger Bundes abgezeichnet werden kann – das ist die größte Ärztevereinigung Europas. Radiologe Althoff rechnet auch bei weiteren Verhandlungsangeboten fest damit, dass ab Montag gestreikt wird. „Wir haben die Termine bei einigen Patienten, die nicht zu den besonders dringlichen Fällen gehören, schon vorsorglich abgesagt.“ Althoff sieht im zweiten Charité-Streik seit dem vergangenen Winter „die einzige Chance, den Druck auf den Senat und den Vorstand der Charité zu erhöhen“.
Den Ärzten geht es um bessere Arbeitsbedingungen, um Arbeitszeiten, die letztlich den Patienten zugute kommen. Nach fast 20 Stunden Arbeit könne man keine gute Medizin mehr machen, das bestätigen viele im weißen Kittel, die im so genannten Fresswürfel eine kurze Pause machen. „Ich arbeite seit fünf Jahren hier. Dienstschluss ist um 15.30 Uhr – aber in all den Jahren habe ich das Haus nicht einmal um diese Zeit verlassen“, sagt der Herzchirurg. Gern verrät er Details zu seinem Job, aber nicht in Kombination mit dem vollen Namen. Also: Der Mann, der Menschenleben rettet, arbeitet täglich zehn bis elf Stunden, Überstunden unbezahlt. Hinzu kommen 105 Bereitschaftsstunden. Am Ende bleiben einem unverheirateten Oberarzt 3300 Euro netto im Monat. Das möge nach viel klingen, heruntergerechnet komme man aber auf einen Stundenlohn von 12 bis 14 Euro netto. Stehe er Heiligabend um 21 Uhr im OP, bekomme er 80 Prozent des üblichen Stundenlohns, von Feiertagszuschüssen wie bei anderen Arbeitnehmern keine Rede.
Die meisten Patienten hätten Verständnis für die Streikbereitschaft der Mediziner, sagt er, zumal die Notfallversorgung ja gewährleistet bleibe. Manchmal, geben Ärzte zu, flunkerten sie gegenüber ihren Patienten: Dann nämlich, wenn ein besorgter Patient vor einer Operation frage, ob der Arzt die Nacht frei habe und morgen früh ausgeschlafen im OP stehe.