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Der Künstler Jonathan Meese.

© Daniel Hofer

Doktor Körners gesammeltes Schweigen: Jonathan Meese schlachtet Farbeimer

Was erfährt man über einen Menschen, wenn man nicht mit ihm spricht? Unser Autor schaut Jonathan Meese beim Malen zu.

Also schweigt Meese und kippt einen Farbeimer auf die Leinwand. In Nullkommanix tanzt, kniet und schnauft er zwischen 13 bis 15 Leinwänden, 210 cm mal 140 cm, die hängen oder liegen. Nein zur Pflicht, Ja zum Spiel. Ich, farbbespritzt, wälze mich neben Meese auf dem Boden. Kroack, Kroack, Kroack, klingen die Farbeimerdeckel, Meese schlachtet die Eimer wie Tiere. Er ist ein Entfesselungskünstler, Sinnverschwender und Zweckentfremder und kombiniert Mythen aus Plastik und Jefühl. Wirft ne Plüschgans auf die Leinwand, tunkt sie in Farbe, die Gans denkt, sie wär ein Schwan. Die Wortenthaltsamkeit gluckst die Kehlen runter wie Bier, Jonathan pumpt Widersinn, er ist Zapfhahn, Träume fließen in unsere Hirne. Der Fotograf und ich sind bald zweckbefreit und bunt. Tatsächlich: Wir knien zu dritt, gebetsfern, aber doch alle verbunden, Jonathan wischt, lässt die Fingernägel singen, seine Finger krebsen, krabbeln, schieben-schlieren Farbe, ich kleckse Worte, alle meditieren, kosmische Ateliereinigkeit. Witsch, witsch, jubiliert Jonathans Cordhose und reibt sich die Augen, Jonathan unter Dampf wie Lukas, der Lokomotivführer, und seine Emma, er schippt Kohlen ins Glutherz. Da lassen sich schnatternd auch Donald Duck, Godzilla, Nietzsche und Mutti Meese blicken, nur von Hitler und Wagner hör ich keinen Ton.

Jonathan, der alte Hörspielonkel, arbeitet mit Laub- und Kettensäge, um aus seinem Schweigen die Klänge rauszuschneiden, die uns umgeben. Das alte Pumpwerk, sein Atelier, puckert, seine schwarze Adidas-Trainingsjacke nölt (Zieh mich wieder an!), der Pinsel plappert, sein schwarzer Bart rauscht wie der Rheinfall, sein Malerkittel klingt wie ein voll besetztes Zirkuszelt, das den Atem anhält: Salto mortale! Zwischen Mensch-Meese und Figur-Meese passt kein Blatt, er arbeitet am Überkind, weil Gott hat Freigang. Am stillsten, am lautesten sind Meeses Augen, die, einmal in Fahrt, nicht zu der Betriebsfröhlichkeit passen, die das Fleisch Meese sonst charakterisiert. Diese Augen sind tiefe Brunnen, da kannst du alle Märchen der Gebrüder Grimm drin versenken und alle Nibelungenschätze dazu. Meese verleiht sich selbst Flügel, der Energy-Drink, für uns bereitgestellt, bleibt ungetrunken. Wir gehen. Als hätte uns ein Bär mit Honig abgefüllt. Satt. Und schwören einander: Wir lassen uns Bärte wachsen.
Jonathan Meese, 48, ist einer der bekanntesten deutschen Künstler. Die Kritik nannte seine wild assoziierenden Werke „Neurotischen Realismus“.
Dr. Torsten Körner, geboren 1965 in Oldenburg, ist Journalist und Schriftsteller. Für diese Kolumne führt er Interviews ohne Worte.

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