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© AFP/TOBIAS SCHWARZ

Update

Karneval der Kulturen zieht durch Kreuzberg: „Man merkt, dass Berlin das gebraucht hat“

Nach drei Jahren Pause ist der Karneval der Kulturen zurück. Am Sonntag ist die traditionelle Parade wieder durch die Straßen gezogen. Ein Besucher musste reanimiert werden.

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An einem Eckhaus an der Zossener Straße steht im zweiten Stock ein Fenster offen. Ein älteres Paar beugt sich hinaus und schunkelt synchron. Unten wummern die Bässe einer Tanzgruppe. Es sind noch mehr Menschen auf der Gneisenaustraße unterwegs als vor vier Jahren.  Ein junger Mann mit Glitzerschminke und knappem Tanga tanzt meisterhaft den Samba. Er strahlt. Berlin ist zurück!

Der Karneval der Kulturen hat mit dem großen Straßenumzug am Sonntag in Kreuzberg seinen Höhepunkt erreicht. Die Parade ist nach drei Jahren pandemiebedingter Pause aus Kostengründen etwas kleiner ausgefallen: Knapp 50 Gruppen mit 2500 Akteuren waren angemeldet – statt der sonst bis zu 90 Gruppen. Die Stimmung bei der 25. Ausgabe des Karnevals ist trotzdem so ausgelassen lange nicht mehr: Endlich darf wieder gefeiert werden.

Die U7 ist schon um 12 Uhr brechend voll, niemand kommt mehr in die Züge – Umfallen ist unmöglich. Die Polizei macht die Strecke am U-Bahnhof Gneisenaustraße frei. Dahinter sieht man schon den Umzug, der sich sammelt. Ein sächselnder Polizist spricht Durchsagen in den Lautsprecher. „Sie werden meine Stimme heute bestimmt noch einmal hören.“ Daneben fragt eine Polizistin: „Was heißt Bordsteinkante auf Englisch?“ Ihr Kollege beklagt sich über den Müll, der schon jetzt auf den Grünflächen liege.

Die Glitzerinzidenz unter den Besucher:innen geht derweil durch die Decke. Die Sambagruppe an erster Stelle trommelt lautstark. Sie will, dass es losgeht. Um 12.20 Uhr setzt sich der Zug am U-Bahnhof Gneisenaustraße mit etwa 20 Minuten Verspätung in Bewegung.

Mitglieder der Gruppe „Maracatu-Treffen“ tanzen beim Umzug des Karnevals der Kulturen in Berlin-Kreuzberg.
Mitglieder der Gruppe „Maracatu-Treffen“ tanzen beim Umzug des Karnevals der Kulturen in Berlin-Kreuzberg.

© dpa/Monika Skolimowska

Kurz später kommt der Zug schon wieder zum Stehen. Dafür gibt es Musik vom ersten Wagen. Punkt 12.30 Uhr geht es dann richtig los. Das Motiv am ersten Wagen: ein brennender Regenwald. Der Wagen ist nicht motorisiert, an jeder Seite wird er von fünf Helfer:innen angeschoben. Ganz vorne, vor dutzenden Sambatänzer:innen, tanzt ein grüner Frosch.

Auch die bekannten Stelzenkünstler:innen stolzieren nach vorne. Eine Frau auf dem Wagen ruft: „Wir sind wieder da! Karneval der Kulturen! Wir sind wieder da!“ Das Publikum ist ekstatisch, tanzt und jubelt. Am Rande der klassische Karneval-Sound: „Lassen Sie mal mein Kind nach vorne!“ Kurz darauf folgt „kult’ura“, eine ukrainische Avantgarde-Gruppe. Sie ruft die Menge zum Skandieren auf – und Kreuzberg folgt: „Stand with Ukraine! Stand with Ukraine!“

Das musikalische, tänzerische und akrobatische Karnevalsprogramm läuft bereits seit Freitag auf dem Straßenfest in Kreuzberg. Seit jeher hat der Karneval der Kulturen auch eine politische Dimension. 1996 auch als Folge von Rassismus und Übergriffen gegründet, sieht er sich als Ort der Begegnung für ein friedliches Miteinander und Zeichen für Diversität. In diesem Jahr geht es schwerpunktmäßig um die Themen Klima, Naturschutz, Recycling und traditionelle Kulturen. In zahlreichen Aufführungen setzen sich die teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler mit diesen Aspekten auseinander.

Die ersten Lastenräder fahren gegen 13 Uhr an den Gästen vorbei, geschmückt mit schwarzen Flatterbändern. Dahinter wirbeln Tänzer:innen in ähnlichem Outfit. Ihr Schild ist nicht zu erkennen. Eine Stimme aus dem Publikum ruft: „Guck mal, das sind die Dancing Mülltüten!“ Dass nur noch 20 Gruppen Wagen mit Motor verwenden, merken die Besucher:innen kaum. Wichtiger sind ohnehin Musik, Tanz und ordentlich Animation – dafür braucht es keinen Diesel.

Zahlreiche Zuschauer warten in der prallen Sonne am Straßenrand auf den Umzug des Karnevals der Kulturen.
Zahlreiche Zuschauer warten in der prallen Sonne am Straßenrand auf den Umzug des Karnevals der Kulturen.

© dpa/Monika Skolimowska

Was den Gästen jedoch auffällt: Es ist voller, gedrängter als sonst. Der Karneval hat seine Route in diesem Jahr verkürzt, die ganze Veranstaltung wirkt gestaucht. Sich in der Menschenmasse zu bewegen, ist an vielen Orten schwierig, es gibt kein Vor und Zurück – gerade an den Ein- und Ausgängen.

Trotz des Glasverbots stapelt sich vielerorts der Abfall. So haben sich etwa vor dem Imbiss „Kauf & Sauf“ in der Zossener Straße bereits Müllberge gebildet. Der Straßenzug ist voller Scherben. Ein Übel, auf das der Karneval keinen Einfluss habe, sagt Geraldine Hepp aus dem Leitungsteam dem Tagesspiegel. Das Glasverbot werde an den offiziellen Ständen zwar durchgesetzt, könne aber an benachbarten Spätis nicht kontrolliert werden.

Müll sammelt sich auf der Zossener Straße in Kreuzberg.
Müll sammelt sich auf der Zossener Straße in Kreuzberg.

© Lotte Buschenhagen

Auch drüben auf dem Straßenfest am Blücherplatz ist die Stimmung trotzdem gut. „Eigentlich alles wie immer“, sagt Tim aus Berlin. Besonders das Essen sei billig und super. Nur die Klo-Situation sei problematisch. „Aber das war sonst auch nie anders!“ Sein Freund Nick freut sich über die vielen Guerilla-Stände, die Anwohner:innen aufgebaut haben. „Die ganzen kleinen Tische, an denen Leute selber Mojitos mixen, Börek verkaufen. Die Leute, die aus dem Fenster heraus feiern. Man hat das Gefühl, dass das Fest aus dem Bezirk heraus gefeiert wird. Nicht, dass der Umzug nur durchzieht.“

Eine weitere gute Nachricht: Die Caipi-Preise sind nicht mit der Inflation gestiegen. Auf der Urbanstraße kämpfen zwei Nachbarstände um den kleinsten Preis. 4,50 vs. 5 Euro. Sturzbesoffene Gäste sind an diesem Sonntag aber nur vereinzelt anzutreffen. Von großem Saufgelage ist keine Spur.

Polizei ist mit mehr als 1000 Kräften im Einsatz – U-Bahnhöfe gesperrt

Auch nach Angaben der Polizei verläuft der Tag bislang friedlich. Besondere Zwischenfälle gab es am Sonntag nicht, sagte eine Polizeisprecherin gegen 17 Uhr auf Nachfrage. Die Berliner Polizei war mit rund 1200 Kräften rund um den Karneval der Kulturen im Einsatz. Allerdings mussten am Nachmittag die U-Bahnhöfe Gneisenaustraße, Südstern und Mehringdamm vorübergehend gesperrt werden. Dies sei aus Sicherheitsgründen notwendig, damit es in den Bahnhöfen nicht zu voll wird. Bei bestem Wetter seien am Sonntag sehr viele Menschen rund um den Karneval der Kulturen unterwegs, so die Sprecherin.

Am Abend teilte die Feuerwehr mit, dass ein Besucher des Karnevals an der Hasenheide nach einem Kreislaufstillstand reanimiert werden musste. Zunächst agierten Zuschauer als Lebensretter, danach übernahmen Sanitäter und Feuerwehrleute.

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Die Co-Leiterin des Fests, Aissatou Binger, zieht am Sonntagnachmittag ein positives Fazit: „Wir sind sehr zufrieden. Mit den Gruppen sowieso – aber auch darüber, dass wir vermehrt weggekommen sind von den Lkw. Darüber, dass so viele Gruppen gesagt haben: Wir nehmen Lastenräder! Und die Stimmung ist sehr gut.“

Ja, in einer Nebenstraße liegen Scherben. Ja, es ist unglaublich voll. Ja, die Gäste brauchen eine Stunde, bis sie die nächste Bahnstation erreicht haben. Und doch überwiegt an diesem Sonntag das allgegenwärtige Gemeinschaftsgefühl – der Grund, weshalb so viele Berliner:innen jedes Jahr zum Karneval strömen. Das findet auch Chris am Südstern: „Man merkt einfach, dass Berlin das gebraucht hat. Gerade, wo sie das Myfest gekillt haben. Jetzt sieht man, dass alle aus ihren Löchern kommen!“

Es wirkt, als kehre Kreuzberg in seinen natürlichen Zustand zurück, wenn sich Fremde an einem Trafohäuschen gegenseitig aufs Dach helfen. Wenn die Betreiberin eines Essensstands ihrer nach Kleingeld kramenden Kundin sagt: „Ist gut, Schatzi.“ Berlin kommt wieder zusammen. Endlich.  

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