Berlin: Maßmännchen im Reichstag
Tastmodell für Blinde ergänzt Informationsangebot zum Parlamentsgebäude
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Die Hand streicht über die Reichstagskuppel. Und bedeckt dabei fast die gesamte Fensterfläche. „Das fühlt sich an wie Plastik“, sagt Jessica Schröder. Ihr Blick geht an der Kuppel vorbei. Die 23-Jährige ist von Geburt an blind.
Wie das Parlamentsgebäude aussieht, konnte sie sich bis jetzt nur vage vorstellen – seit gestern jedoch kennt sie jedes Detail. Sie ist eine der ersten, die das Tastmodell des Hauses erfühlen – am Dienstag zwei Stockwerke unter der Originalkuppel bei der Enthüllung des „Reichstags zum Anfassen“. So hat Bundestagsvizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (CSU) das Modell genannt und dann mit feierlicher Geste das weiße Tuch entfernt, unter dem der Miniaturreichstag im Maßstab 1:100 zuvor noch versteckt war.
Mit am Laken zog Dagmar Freitag, Bundestagsabgeordnete (SPD) und treibende Kraft hinter dem Projekt. „Es war ein Auftrag meiner Wähler an mich persönlich“, erklärt sie und erzählt, wie sie vor rund drei Jahren Besuch von einer Gruppe sehbehinderter und blinder Menschen aus ihrem Wahlkreis in Nordrhein-Westfalen bekam. Am Ende der Visite konnten sich ihre Besucher trotz aller Erklärungen den Reichstag noch immer nicht wirklich vorstellen. Abhilfe musste her.
Bei 3,5 Millionen Deutschen liege die Sehkraft unter 30 Prozent, sagt Renate Reymann, Präsidentin des Blinden- und Sehbehindertenverbandes. Die Organisation hat bei der Umsetzung des Planes mitgeholfen. „Jetzt können auch sie im wahrsten Sinne des Wortes Demokratie begreifen“, fügte Reymann hinzu.
Jessica Schröder hat inzwischen die „Maßmännchen“ entdeckt, bunte Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spielfiguren. Jessica nimmt eins aus der kleinen Kiste am Fuß des Gebäudes. „Die Männchen sind im Vergleich mit dem Modell genauso groß wie wir neben dem Original,“ sagt Burkhard Lüdtke vom Fachbereich Modellbau am Institut für Architektur der Technischen Universität. Er hat den Bau des Miniatur-Reichstags geleitet – rund 200 Studenten haben das Gebäude in zweieinhalb Jahren aus mehr als 1000 Einzelteilen aus einem Sand-Kunststoff-Gemisch zusammengesetzt.
Die Entstehung zeigt bis zum 30. März eine Ausstellung um das Modell herum. Das ist auch danach dauerhaft zu sehen. Ebenso ein Umgebungsmodell: das Regierungsviertel, Maßstab 1:1500. Manfred Scharbach, ebenfalls seit Geburt blind, tastet dort erstaunt umher: „Der Hauptbahnhof sieht ja aus wie ein Marzipanbrot in Bananenform.“
Infos zur Anmeldung: Tel. 227 32152
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