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Die Krankenkassen in der Region stellen zum Teil dramatische Anstiege der Zahlen von Magersucht- und Bulimiefällen fest.

© Jens Kalaene/dpa

Essstörungen: Mehr Magersucht und Bulimie in der Hauptstadtregion

Viele Jugendliche und junge Frauen haben Essstörungen. In Berlin und Brandenburg ist die Lage besonders schlimm.

Von Sandra Dassler

Die Meldung ließ in der vergangenen Woche vor allem viele Eltern aufhorchen: Die Zahl der magersüchtigen Jugendlichen in Brandenburg habe einen neuen Höchststand erreicht, teilte die Krankenkasse Barmer mit. Nirgendwo in Deutschland gebe es einen so deutlichen Anstieg von jungen Menschen, die wegen Magersucht, auch Anorexie genannt, in ärztlicher Behandlung waren – von 199 im Jahr 2011 auf 330 im Jahr 2016. In Berlin stagniere die Zahl seit Jahren auf einem hohen Stand. Hier begeben sich in jedem Jahr etwa 500 Barmer-Versicherte wegen gravierender Essstörungen in ärztliche Behandlung.

Das mag auf den ersten Blick nicht viel erscheinen, sagt ein Barmer-Sprecher: „Aber das sind ja nur unsere Versicherten. Hinzu kommen die der anderen Kassen und mit Sicherheit eine sehr große Dunkelziffer.“

Jedes fünfte Kind ist betroffen

Wissenschaftler gehen davon aus, dass deutschlandweit inzwischen jedes fünfte Kind zwischen 11 und 17 Jahren Anzeichen von Bulimie oder Magersucht aufweist. Barmer-Landesgeschäftsführerin Gabriela Leyh sagt, es sei typisch für Essstörungen, dass die Betroffenen – meist Mädchen und junge Frauen – ihr Problem negieren und erst zum Arzt gehen, wenn ernste Folgeerscheinungen wie Kreislaufprobleme, Zahn- oder Nierenschäden auftreten oder wenn die Menstruation ausbleibt.

„Ich habe lange gar nicht bemerkt, dass ich ein Problem habe“, erzählt Kera Rachel Cook: „Ich wollte meinen Traum verwirklichen und Model werden, war bereit, fast alles dafür zu tun.“ Da war Cook 15 Jahre alt und bekam endlich einen Modelvertrag angeboten – unter der Bedingung, dass sie abnehmen müsse. Sie ging auf strenge Diät, verlor Gewicht, bekam den Vertrag dann aber doch nicht und glaubte nun erst recht, weiter machen zu müssen.

"Was tue ich meinem Körper an?"

„Ich dachte, dass ich nur anerkannt werde, wenn ich schön bin und nur schön bin, wenn ich schlank bin – also hungerte ich weiter, bekam aber auch zunehmend Essattacken.“ Eines Nachts, Cook arbeitete tatsächlich schon einige Jahre als Model, hatte aber auch schon mehrere Therapien und Kuren wegen ihrer Essstörungen hinter sich, lag sie im Hotelbett in Köln und dachte: „Was mache ich hier eigentlich? Was tue ich meinem Körper an?“ Am nächsten Tag stand für sie fest, dass sie kein Model mehr sein wollte. Nicht um diesen Preis. Sie kündigte alle ihre Verträge.

Das ehemalige Model Kera Rachel Cook (o. re.) litt selbst an einer Essstörung und klärt nun darüber auf.
Das ehemalige Model Kera Rachel Cook (o. re.) litt selbst an einer Essstörung und klärt nun darüber auf.

© Robert Cook/Privat

Als sie etwas später von einer Freundin, die Lehrerin war, gefragt wurde, ob sie über ihre Erfahrungen mit Magersucht und Bulimie vor einer sechsten Klasse sprechen wollte, zögerte sie nur kurz. „Es ist wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen etwas von wirklich Betroffenen hören und nicht nur theoretisch vom Lehrer“, sagt sie.

Seither hält die Kera Rachel Cook viele Vorträge (nicht nur) an Schulen und setzt sich dafür ein, dass junge Menschen sich selbst schätze lernen – unabhängig von medialen Schönheitsidealen, die Cook noch gut aus ihrer Zeit bei „Germany’s Next Topmodel“ kennt. 2010 nahm sie in der Show teil.

Auch die AOK verzeichnet einen Anstieg

Nun unterstützt die 30-Jährige auch das Vorsorge- und Früherkennungsprogramm, das die AOK Nordost seit Jahresbeginn anbietet. Denn auch diese Kasse registriert einen deutlichen Anstieg der Essstörungsdiagnosen bei Sechs- bis 54-jährigen Versicherten, sagt Sprecher Matthias Gabriel. „Wurde 2010 in der Region Nordost noch bei rund 3500 Versicherten eine psychogene Essstörung wie Bulimie, Magersucht oder Binge Eating, also Esssucht, diagnostiziert, waren es 2016 schon 6100 Versicherte. Damit hat sich die Zahl der Diagnosen fast verdoppelt, am rasantesten in Berlin.“

Erschreckend sei auch, dass sich nur etwa zehn Prozent der Erkrankten innerhalb von drei Jahren nach der Diagnose psychotherapeutisch behandeln ließen. Mit zunehmender Krankheitsdauer sinke die Bereitschaft dazu noch. Deshalb sei eine frühzeitige Intervention so wichtig. Die AOK hat seit Anfang des Jahres ein digital unterstütztes Programm zur Früherkennung und Frühbehandlung von Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen im Alter von sieben bis 17 Jahren gestartet. Mit dabei ist unter anderem „Dick & Dünn“, ein Berliner Beratungszentrum, das seit mehr als 30 Jahren Hilfe bei Essstörungen anbietet.

„Neun- bis Zehnjährige sind keine Ausnahme mehr“

Dort arbeitet Suchttherapeutin Martina Hartmann. Seit Jahren beobachtet sie, dass die Betroffenen immer jünger werden. „Neun- bis Zehnjährige sind keine Ausnahme mehr“, sagt sie: „Wir hatten aber auch schon einen Achtjährigen.“ Es sind vor allem die sozialen Medien, die nach Ansicht von Martina Hartmann für den rasanten Anstieg von Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen verantwortlich sind. „Was sich da im Internet tummelt, was ungeprüft und ungefiltert behauptet und beworben wird, ist besorgniserregend“, sagt sie: „Die sogenannten Influencer werben mit Proteinpulver, das angeblich blitzschnell Muskeln aufbaut oder mit Smoothies aus 20 Bananen wie das umstrittene Banana-Girl, das Millionen Follower hat.“

Die Botschaft, man brauche nur das richtige Produkt, um alle seine Probleme zu lösen, trifft auf Jugendliche, die oft verunsichert und einem starken Druck ausgesetzt sind, leistungsfähig, ja mehr noch: perfekt zu sein. Der Optimierungswahn macht auch nicht vor dem eigenen Körper Halt, sagt Martina Hartmann, die sehr oft besorgte Eltern berät. „Dick & Dünn“ hat aber auch eine spezielle Jugendsprechstunde, in der Mädchen und Jungen kostenlos und auf Wunsch anonym beraten werden. Wichtig – darauf weisen alle Experten hin – sei aber, dass junge Menschen den richtigen und kritischen Umgang mit Medien immer wieder in der Schule lernen und üben.

Manche Eltern senden falsche Signale

Es genügt eben nicht, dass man den Kindern verbietet, „Germany's Next Topmodel“ zu schauen, sagt auch Kera Rachel Cook: „Viel wichtiger ist das eigene Vorbild. Leider denken auch viele Mütter, sie seien zu dick oder zu dünn oder müssten ihren Körper irgendwie verbessern.“ Sie machten Diäten, redeten darüber, was man essen darf und was nicht – und sendeten so fatale Signale an ihre Kinder: „Denn für Kinder sind ihre Eltern perfekt, und wenn schon die perfekte Mama denkt, sie habe Probleme mit dem Aussehen – was muss erst für das Kind gelten?“

Dabei müsste man gar nicht lange nachdenken, um festzustellen: „Mein Körper ist liebenswert, so wie er ist. Meine Beine sind dazu da, mich zu tragen und nicht, um auf dem Laufsteg bewundert zu werden...“, betont Kera Rachel Cook heute. „Wenn Frauen das schon nicht für sich erkennen wollen – dann wenigstens für ihre Kinder.“

Wenn sich Ihre oder die Gedanken Ihres Kindes nur noch ums Essen drehen, finden Sie Hilfe bei Ihrer Krankenkasse oder im Beratungszentrum „Dick & Dünn“, Telefon 030 8544994, wochentags 10-14 Uhr. Oder online: www.dick-und-dünn-berlin.de

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