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Berlin: Menschenwürde – ein Störfaktor im Heim?

Defizite in der Pflege sind die Regel, sagt ein Chefarzt des Urbankrankenhauses Ein Berliner Modellprojekt zeigt, dass es auch anders geht

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Altern in Würde – dieses Thema ist offenbar nur unter einem Fragezeichen zu diskutieren. Und so war auch am Donnerstagabend bei der Podiumsdiskussion in der Berliner Ärztekammer zunächst nur wenig Positives über „Altern in Würde – eine Utopie?“ zu hören, bis die Sprache auf ein Berliner Pflegemodell kam.

Doch zunächst ging es um die Missstände: Tausende Pflegebedürftige würden in deutschen Heimen ans Bett fixiert, über Magensonden zwangsernährt oder in nassen Windeln liegen gelassen, weil das knappe Personal überlastet sei, sagt Claus Fussek. Der Münchner Sozialpädagoge und Autor des Buchs „Alt und abgeschoben“ gehört zu den profiliertesten Kritikern des deutschen Pflegesystems. Ebenso wie Michael de Ridder, Chefarzt der Rettungsstelle des Kreuzberger Vivantes-Klinikums am Urban. Er muss oft schwerstkranke Patienten behandeln, die aus Pflegeheimen in die Notaufnahme gebracht werden. „Defizite in der Pflege sind nicht die Ausnahme, sie sind ein strukturelles Problem.“ Es werde in den Einrichtungen oft mehr Wert auf Sauberkeit als auf menschliche Zuwendung gelegt, kritisiert auch Thea Jordan vom Menschenrechtsausschuss der Ärztekammer. Dabei wäre Zuwendung schon deshalb dringend nötig, weil viele Menschen den Umzug ins Heim als Verlust ihrer Biografie empfänden. Viele Erinnerungsstücke gingen ihnen verloren und sie müssten sich den strengen Heimregeln unterwerfen. Die Folge: Depressionen.

Und die Ärzte? Die machten oft einen Bogen ums Heim, sagt Claus Köppel, Chefarzt der Geriatrie am Tempelhofer Wenckebach-Klinikum. Denn Erfolgserlebnisse – etwa die Heilung – blieben aus. „Dabei kommt gerade von alten Menschen so viel Dankbarkeit zurück.“

Doch neben dem fehlenden Erfolgserlebnis mangele es auch an Honorar für die aufwendigen Heimbesuche, sagte ein niedergelassener Arzt. Und so kommen Mediziner nur unregelmäßig ins Heim und kennen die Patienten nicht genau.

Und die Pfleger, die zwar immer da sind, seien überlastet, oft unterbezahlt und machten trotz riesigen Engagements Fehler. Davon wiederum profitierten Kliniken, sagt Buchautor Fussek. An den Folgen falscher Pflege würden in Deutschland Milliarden verdient. „Jedes Druckgeschwür, jeder Schenkelbruch nach einem Sturz ist ein Wirtschaftsfaktor im Krankenhaus.“ Dieses Geld sollte besser in die Pflegequalität investiert werden.

Einen Lichtblick gibt es aber doch: Wenn sich ein Heim angestellte Ärzte für seine Bewohner leiste, dann gehe die Zahl der Klinikeinweisungen von Pflegebedürftigen um die Hälfte zurück, sagt der Altersmediziner Köppel. In Berlin läuft seit 1998 ein Modellversuch, der dies beweise. Rund 40 von 278 Berliner Heimen haben sich diesem Pflegeprojekt angeschlossen, bei dem Ärzte entweder im Heim angestellt oder durch Verträge daran gebunden sind. „Ein geniales Modell – aber warum ist es nicht längst flächendeckend eingeführt worden?“, wundert sich Claus Fussek.

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