zum Hauptinhalt
Edith Lünser

© privat

Nachruf auf Edith Lünser: Eine Kämpfernatur

Der Mauerfall: kein Glückstag. Aber irgendwie fand sie sich zurecht im neuen System

Stand:

Was es bedeutet, ein Zuhause zu verlieren, wusste Edith Lünser. Vielleicht kämpfte sie deshalb bis ins hohe Alter gegen Immobilienkonzerne. Damit Menschen nicht vertrieben werden – wie sie selbst viele Jahre zuvor.

In Böhmen wurde sie geboren. Als sie drei war, zog die Familie von Prag nach Engerau, einem Stadtteil des heutigen Bratislava. Edith verbrachte ihre Kindheit zwischen Donau, Schloss und Park. Hier stand ein hoher Pavillon. Immer wieder versuchte Edith, ihren Ball bis zur Decke zu werfen. Es gibt ein Bild von ihr aus dieser Zeit: eine Achtjährige in Tracht, die Hände in den Hüften, der Blick herausfordernd. Eine Kämpfernatur.

Mit zwölf musste sie miterleben, wie ihre beste Freundin beim Hochwasser ertrank. Mit Heidi war sie immer zusammen ins Lyzeum nach Wien gefahren, montags hin, freitags zurück. Sie sah das Boot ihrer Freundin kentern, sie schrie und schrie. Nie mehr ist sie ins tiefe Wasser gegangen.

Dann der Hof der Großmutter in einem Dorf bei Saaz, heute das tschechische Žatec. Edith liebte ihre Babička, ebenso wie später den gleichnamigen Schlager von Karel Gott, den sie bis ins hohe Alter oft und gern sang. Das Landleben genoss sie mit Kaninchen, ihrem Hund Lumpi und ihrer Lieblingsgans, die ihr jeden Tag auf dem Rückweg von der Schule vier Kilometer entgegengeflogen kam.

Todunglücklich, als er eine andere heiratete

Doch die Idylle hielt nicht. 1945 musste die Familie die Heimat verlassen. Die damals 13-jährige Edith, Kind einer tschechisch-deutschen Mutter und eines ungarisch-fränkischen Vaters, erfuhr, was Hass anrichtet. Sie landeten zunächst in einem Dorf bei Magdeburg. Ein Lehrer bemerkte Ediths mathematische Begabung und schlug sie für die Heimoberschule vor, wo sie das Abitur machte. In einen Mitschüler war Edith heimlich verliebt – und todunglücklich, als er eine andere heiratete. Viele Jahre später verriet der heimlich Begehrte, dass er von Ediths Liebe natürlich gewusst habe. Doch sie sei immer „wie eine Schwester“ für ihn gewesen.

Edith blieb nicht allein. Beim Studium an der Berliner Humboldt-Universität lernte sie ihren späteren Mann kennen. Als sie mit ihm und dem ersten Kind 1957 in die Köpenicker Lindenstraße zog, hatte sie auch einen Ort, den sie Zuhause nennen konnte, 69 Jahre lang.

Sie hatte es mit der Präzision, schon bei ihrem ersten Job nach dem Abitur kam ihr das gelegen: In einem Konsum zählte sie Waren ab. Spätere Briefe glichen häufig einer Inventur. „Gleich bekomme ich ein schönes Fußbad (42 Grad, 20 Minuten)“, schrieb sie einmal von der Kur. Oder skizzierte in einem Brief an Freunde aus Kiew detailliert ihre Pläne für den bevorstehenden Besuch: Donnerstag Ankunft Ostbahnhof, Freitag Anmeldeformalitäten, Besichtigung des Stadtzentrums, Sonnabend Potsdam…

So sehr sie für andere plante, sie selbst fuhr einfach los. Mit 49 Jahren etwa, gemeinsam mit ihrer Tochter, kurz nach dem Tod ihres Mannes. Mit dem Zelt ging es ins Vogtland, den Harz, die Sächsische Schweiz. Sie übernachteten bei Fremden im Garten, niemand wies sie ab. Zwei Sommer verbrachte die ganze Familie am Asowschen Meer. Genau das Richtige für Edith, denn egal wie weit sie hineinlief, das Wasser reichte ihr nur bis zur Hüfte.

„Die Hand saß locker“

2000 kehrte sie noch einmal zurück nach Engerau und stand vor dem Schutthaufen ihres Elternhauses. Dort sollte eine Autobahn gebaut werden. 2008 besuchte sie den Ort erneut. Wo früher der hohe Pavillon gestanden hatte, waren jetzt Kräne, die Elfgeschosser hochzogen.

In Köpenick fühlte sie sich wohl. Hier gab es die Dahme und die Spree, einen Park und ein Schloss. Mit den Kindern und später Enkeln ging es auf den Fernsehturm ins Drehcafé, mit dem Dampfer über die Spree, zur Ostereiersuche an den Müggelturm, auf den Rummel im Plänterwald. Sie liebte Achterbahnen.

Als Mutter war sie streng, sie schimpfte viel. „Die Hand saß locker“, erzählt die Tochter. Im Gegensatz zum Vater taugte sie nicht zum Kuscheln. Doch waren die Kinder krank, „war sie die liebste und fürsorglichste Mutti der Welt“. „Sei schön lieb und artig, ärger nicht deine liebe Tochter und verwöhn nicht den Sohn“, schrieb sie ihrem Mann aus der Kur im Erzgebirge. Und dann: „Laßt mal was von Euch hören, Ihr Faulpelze! Bis jetzt habe ich erst eine Karte außer dem 1. Paket erhalten. Tschüs! Mami.“

Der Mauerfall war für sie kein Glückstag. Zuvor hatte sie bei der Bauakademie der DDR gearbeitet, anfangs als Ingenieurin, später als Rechenstationsleiterin und Wirtschaftsanalytikerin. Als Hausgemeinschaftsleiterin war sie vom „Nationalen Aufbauwerk“ ausgezeichnet worden: „Dem Sieger Dank und Anerkennung für seine hervorragende Leistung im Wettbewerb“. Nun, als es die DDR nicht mehr gab, wurde sie arbeitslos. Geld war knapp, Gewissheiten stürzten ein, ihre Partei wurde umbenannt. Eine Beziehung ging sie nicht mehr ein. Denen sie gefiel, die wollte sie nicht – und umgekehrt.

Aber irgendwie fand sie sich dann doch zurecht im neuen System, in der alten, neuen Partei. Leitete die Senioren-Arbeitsgruppe „Wohnen & Mieten“ des Bezirks, in der sie bis zuletzt „mit kräftiger Stimme mit wichtigen Fakten“ die Diskussion bereicherte, so haben es Parteigenossen nach ihrem Tod geschrieben.

1990 hatte sie die DDR-Schwester des Berliner Mietervereins gegründet. „Noch wenige Tage vor ihrem Tod war sie in unserer Geschäftsstelle: Man müsse der Deutschen Wohnen das Handwerk legen“, schreibt der Berliner Mieterverein. Noch mit 87 stritt sie mit der „Deutsche Wohnen“ um 24 Euro pro Monat doppelt berechneter Hauswart-Betriebskosten-Umlage. Chaotische Buchungen hätten dort System, sagte sie damals in einem Beitrag im „Berliner Kurier“: „Die DW sucht sich immer die ältesten und schwächsten Mieter aus!“

Hartnäckig kämpfte sie für die Rechte von Mietern – aber nur, wenn auch die etwas Kampfgeist zeigten. Dann rechnete sie Betriebskosten nach, biss sich durch, bis die Gegenseite sich ergab. Aber wer auf dem Weg dorthin aufgab, den ließ sie fallen: „Hat keinen Sinn.“

Aufstehen, weitermachen, immer wieder. Bis ihre erste Enkelin, die sie eine Zeitlang wie ein drittes Kind aufgezogen hatte, mit Mitte 40 starb. Davon hat sich Edith nicht mehr erholt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })