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Bassist "Speiche" (vorne rechts) und seine Band Monokel, die in der DDR berühmt war.

© privat

Nachruf auf "Speiche": Er war die Blueslegende aus Prenzlauer Berg

In der DDR spielte er Bass bei Monokel, später führte er lange "Speiches Rock- und Blueskneipe", nach ihm benannt. Nun ist Jörg Schütze gestorben.

Manchmal kann ein Mensch ein ganzes kleines Universum sein. Und durch seine Art zu leben, immer mehr Menschen für ein neues Leben begeistern, so dass eine neue gemeinsame Welt entsteht.

Bei Jörg Schütze war es der Blues, und seine Bühne war die DDR. Schütze, Bassgitarrist und ostdeutsche Musiklegende, Kiezgröße im widerständigen Prenzlauer Berg, kannten viele nur unter seinem Spitznamen „Speiche“. Den trug er, weil er im Gegensatz zu seinen Bandkollegen von „Monokel“ so lang und dünn war.

Nach dem Mauerfall führte er 20 Jahre lang „Speiches Rock- und Blueskneipe“ am Helmholtzplatz, eine eigene erdverbundene Welt der verbliebenen Rocker inmitten des sich immer schicker machenden und sich dabei manchmal selbst vergessenden Kiezes.

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Am Wochenende ist Jörg Schütze im Alter von 73 Jahren nach langer, schwerer Krankheit gestorben, wie Freunde von ihm am Pfingstsonntag dem Tagesspiegel bestätigten. Er hinterlässt eine Frau und einen erwachsenen Sohn, inzwischen auch ein Bassist. Und von ihm bleibt ein kleines eigenes Universum im sich stetig wandelnden Berlin.

Geboren 1946 in Altglienicke hörte Schütze in den Kriegstrümmern bei seinem größeren Bruder erste Platten von Louis Armstrong; außerdem Gospel von Mahalia Jackson. Es war die Musik der ausgestoßenen Schwarzen in Amerika, dem Land der Sehnsüchte vieler Menschen im sich langsam teilenden Berlin.

Er gehörte zu den Ausgestoßenen, den "Gammlern" und "Kunden"

Im Schatten der Mauer wuchs er in Prenzlauer Berg auf; im Kiez an der Zionskirche hatte er die Betonhärte des Sozialismus vor der Nase. Eigentlich hatte er sich als junger Mensch für den Osten entschieden, „weil hier keine Nazis an der Macht waren“, wie er glaubte.

Doch Schütze wollte bald reisen; frei sein; Mucke machen wie ihm die Laune gewachsen war; lange Haare tragen. Gemeinsam mit anderen spielte er in Kellern; schnell waren sie die Ausgestoßenen, als „Gammler“ und „Kunden“ betitelt. Schütze verweigerte den Wehrdienst und versuchte im September 1965 die Flucht – in jenen Tagen spielten in West-Berlin die Rolling Stones ihr legendäres Konzert, bei dem die Waldbühne zu Bruch ging. Schütze saß zwei Jahre im DDR-Gefängnis ab.

Jörg Schütze, wie er bürgerlich hieß, mit Bass 1965 auf dem Titel des "Eulenspiegel".
Jörg Schütze, wie er bürgerlich hieß, mit Bass 1965 auf dem Titel des "Eulenspiegel".

© privat

Auch im Osten gab es „Beat-Demos“, und Schütze eckte weiter als „feindlich-negatives Element“ an. Auf Pressefesten im Volkspark Friedrichshain wurden er und seine Freunde wegen ihres Anders-Aussehens und Andersseins von der Polizei gejagt; sie versteckten sich auf Bäumen. „Meine Lebenseinstellung war rebellisch“, sagte Schütze einmal rückblickend.

"Eigentlich war er der Sänger der Band"

Die Flucht in die Musik, sie gelang ihm. Als Bassist prägte er die Combo „Monokel“, die im Osten berühmt wurde; eines ihrer Lieder hieß: Und ich schrei, weil ich lebe. „Er war einer der ruhigsten Menschen, die ich als Musiker je getroffen habe, er hat nie gemeckert und immer was Schlaues gesagt“, erinnert sich sein Freund und Wegbegleiter Peter Schneider.

Auf der Bühne stand der lange Kerl mit den langen hellen Haaren immer hinten rechts. „Er sah aus wie Jesus und führte die Band mit seiner Körpersprache“, erzählt Schneider. „Wir konnten vorne mit unseren Gitarren Faxen machen, alle haben nur auf Speiche geschaut. Eigentlich war er der Sänger der Band.“ 

Sie traten auf in Untergrundkneipen wie auch auf Ost-Berlins Straßenfesten und in den wichtigsten Clubs: Franz, Prater, Knaack, manchmal mit großer Kapelle in Kinos wie dem Colosseum oder dem Kosmos. Sie spielten Blues, Rythm’n’Blues, Rock’n’Roll - Sehnsuchtsmucke in einem Land der begrenzten Möglichkeiten.

Speiche (Mitte), wie immer mit Zigarette, 1965 in Ost-Berlin.
Speiche (Mitte), wie immer mit Zigarette, 1965 in Ost-Berlin.

© privat

Speiches Leitspruch erweiterte den Horizont für viele: Man sollte niemals jemanden kopieren wollen, weder in der Musik noch im Leben. Er blieb einfach immer er selbst und damit den Träumen von vielen treu.

Nach der Wende mussten er und seine Kumpels von vorne anfangen

Dann die Befreiung aus eigener Kraft, der Mauerfall, „unser berührendster Moment“, wie Schütze später sagte. Doch die Zeitenwende brachte auch neue Probleme, der Manager hatte die Bandkasse geplündert und war getürmt. Jörg Schütze und seine Kumpels mussten von vorne anfangen, spielten wieder in kleinen Läden in Pankow, waren auch regelmäßig Gast in den Kleingärten an der Bornholmer Straße.

Dort saß Schütze, inzwischen mit kürzeren Haaren, nach den Auftritten unter den einstmals Ausgestoßenen und im neuen Metropolen-Berlin schon wieder Anderswirkenden mit ihren Lederjacken und Cowboyhüten und freute sich, wenn sie gemeinsam noch eine Jamsession hinterherschoben; frei heraus auf die neuen Zeiten.

Seine Kneipe war bald in jedem Berlin-Reiseführer

Speiche erfand sich neu; machte am Helmholtzplatz seine Musikkneipe auf, die wegen ihrer Urigkeit und ihrer kostenlosen Konzerte an den Wochenenden bald in jedem Berlin-Reiseführer stand. Und er gab noch manchmal Konzerte in der Kulturbrauerei. Irgendwann wollte er dann langsamer machen, doch der Krebs kam. Schon die große Feier zu seinem 70. fiel kleiner aus.

Egal, wie sich die Zeiten und die Welten ändern – der Blues bleibt ein Universum. In Berlin auch dank Speiche, der stillen Blueslegende aus Prenzlauer Berg.

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