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Nachruf auf Dagmar Hoersch-Peter: „Dann werde ich alle diese Sachen tun“
Guten Tag, Frau Doktor, danke für die OP, Frau Doktor, grüßen Sie zu Hause, Frau Doktor!
Stand:
Ein Pflegewohnheim. Ein Gang, eine Zimmertür, neben der Zimmertür ein Schild. Auf dem Schild ein Name: Dagmar Hoersch-Peter. Daneben ein Bild, nicht groß, aber jeder, der hier stehenblieb, erkannte auf der Stelle, wer das ist, auf diesem Bild. Nofretete, „die Schöne ist gekommen.“
Nein, nein, das ist keine Hybris, kein Hochmut der Bewohnerin des Zimmers. Obwohl es eine Menge Fotos von ihr gibt, die eine Ähnlichkeit mit der „großen Königlichen Gemahlin“ Echnatons deutlich erkennen lassen. Vor allem diese Linie, wenn sie den Kopf, das fein geschnittene Gesicht ein wenig nach vorn schiebt, den Hals dabei dehnt, entsteht diese klare, zarte Kontur des Nackens.
Dagmar liebte die Nofretete, was eigentlich schon der ganze Grund dafür war, deren Bild neben ihren Namen zu hängen. Und nun, die letzten sieben Jahre, war sie der ägyptischen Königin endlich so nah, dass sie zu ihr und um sie herumspazieren konnte, wann immer sie wollte. Vor sieben Jahren, am Ende ihres Lebens, ist sie nach Berlin gekommen, hier wohnen zwei ihrer drei Töchter.
Angefangen hat alles in Bladiau, einem Dorf bei Königsberg. Ein schönes Haus, ein großer Garten, Sigrun, die jüngere Schwester, Martha, das Dienstmädchen, ein Gutsarbeiterkind, das schon mit 13 in die Familie kam und dann ein mütterlicher Ersatz wurde. Dagmars Mutter, eine Pianistin, der seit einem Unfall zwei Finger fehlten, starb mit 44 Jahren an einem Herzinfarkt. „Mit diesem Tod war meine Kindheit zu Ende. Ich fühlte mich nackt und allein“, schrieb sie 2005 in ihren Erinnerungen.
Sie schüttelte Verehrer ab, verliebte sich
Ihr Vater betrieb eine Zahnarztpraxis in Königsberg, wohin die Familie 1936 umgezogen war. Eigentlich wollte er Chirurg werden, weshalb die Tochter ihn auf den langen, gemeinsamen Spaziergängen tröstete: „Dann werde ich alle diese Sachen tun, wenn ich groß bin.“
1944 schickte der Vater die Kinder und Martha zu Verwandten einer Patientin in die Nähe von Freiburg, weg vom Wasser, der Ostsee, in den dichten, dunklen Schwarzwald. Holte sie jedoch 1945 wieder ab, der Irrsinn war zu Ende, sie fuhren wieder hoch, Richtung See, nach Heiligenhafen, eine Jugend am Meer.
Sie studierte tatsächlich Medizin. Lernte diszipliniert, einerseits, und schwirrte andererseits mit ihren Freundinnen durch das Studentenleben, schüttelte Verehrer ab, verliebte sich, fühlte sich jung und schön, manche waren der festen Ansicht, ihr Gesicht gliche dem Audrey Hepburns. Sie kaufte sich die Reproduktion eines Gauguin-Gemäldes, zwei Maorimädchen mit Hibiskusblüten, für 110 Mark, 150 Mark betrug ihr Assistentinnengehalt an der Universitätsklinik Kiel. Das Bild hing fortan in jeder Wohnung über ihrem Bett, auch noch am Ende, in Berlin.
Sie entschied sich dann doch gegen die Chirurgie und für die Gynäkologie, operative Eingriffe gab es ja auch hier. Zumal sie unbedingt in einer Klinik arbeiten wollte, der Alltag in einer Praxis erschien ihr zu eintönig. „Sie hat es geliebt zu operieren“, sagt eine ihrer Töchter. „Es faszinierte sie, einen Schnitt vorzunehmen.“ Die Teile des Körpers in ihrer Ordnung, die inneren Mechanismen, die man sich anschaut, misst, kontrolliert, die Abweichungen, die man wieder in Ordnung bringen kann.
1957 zog ihr Vater nach Düsseldorf, und sie folgte ihm, fing im Marienhospital an, in dem Pater Reinulf Hausgeistlicher war. Ein Franziskaner mit braunem Habit und weißem Zingulum und Zölibatspflicht. Erstaunlich, wie entsetzt die Leute sind, wenn ein junger Mann Ordensbruder wird, auch schon in den Fünfzigern; erstaunlich, wie viel entsetzter noch die Leute sind, wenn sich dieser junge Mann verliebt, aus dem Orden austritt, heiratet. Aus dem katholischen Pater Reinulf wurde Rudolf, evangelischer Pastor und Dagmars Mann (im Übrigen hatte auch Echnaton eine Priesterfunktion). Seine Familie brach mit ihm. Dagmars Vater hingegen freute sich über die theologisch-philosophischen Gespräche mit seinem Schwiegersohn.
Sie gingen nach Schleswig, sie ans Martin-Luther-Krankenhaus, er als Seelsorger an die Psychiatrische Klinik. Sie bekamen drei Kinder. Lebten in einem schönen, großen Pastorat mitten unter den Patienten. Alles ganz normal.
Man redete über Geburten und Kaiserschnitte, über die Kirche
Als die Mädchen 14, 15 waren, wurden sie von ihren Freundinnen gefragt, ob ihre Mutter ihnen nicht die Pille verschreiben könne. Ja, klar, sagte Dagmar. Man malte zu Hause und las und sang und spielte Klavier. Man redete über Geburten und Kaiserschnitte, über die Kirche. „Ich muss da austreten“, erklärte eine Tochter. „Dann mach“, erwiderte der Vater.
Lief Dagmar durch die Schleswiger Einkaufsstraße, sprachen die Leute sie unaufhörlich an, guten Tag, Frau Doktor, danke für die gelungene OP, Frau Doktor, grüßen sie zu Hause, Frau Doktor.
Nach der Pensionierung zogen beide nach Wirges im Westerwald, in das Haus, in dem Dagmars Vater gewohnt hatte. Wirges. Vielleicht doch ein Fehler. Sie kannten ja dort niemanden. Die Ostsee war weit. Aber der Garten war groß. Dagmar begann zu malen, in Aquarell und Acryl, stellte aus, belegte einen Französisch- und einen Italienischkurs, manchmal vertrat sie auch noch einen Kollegen.
2002 starb Rudolf. Sie blieb noch ein paar Jahre in Wirges, dann kam sie nach Berlin.
Die Hälfte ihres Zimmers richtete sie als Atelier ein. Aquarellierte eine blaue Rose ein zweites Mal, weil eine Schwester sie so gelungen fand. Sie besuchte ihre Kinder und Enkelkinder. Sie fuhr an die Ostsee. Sie streifte durch die Museen. Sie versank in der Betrachtung der Nofretete. Sie guckte immer „Das Literarische Quartett“, obwohl ihr Reich-Ranicki fehlte. Jedes Buch, das er gelobt hatte, hatte sie auf der Stelle gelesen. Es auch ab und an mit den Verrissenen probiert, um dann zu erklären: „Oh ja, er hatte recht.“
Dann begannen die Zeiten ineinander zu verschwimmen, heute wurde gestern oder vorgestern oder vor Jahren. Und umgekehrt. Aber das war nicht schlimm, das war ganz und gar nicht schlimm.
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