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Nachruf auf Gunther Solowjew: Talent zum Glück
Ein Deutscher, noch dazu ein Sozialdemokrat! Immerhin war sein Auftreten gepflegt, und er roch stets gut
Stand:
Tausende Soldaten starben am 6. Juni 1944, dem Tag der Landung der alliierten Truppen in der Normandie. D-Day, Decision-Day, Tag der Entscheidung über Leben und Tod. Viele der jungen Soldaten, die von Bord der Landungsschiffe stürmten und im nächsten Moment von deutschen Maschinengewehrsalven hinweggerafft wurden, waren auf den Tod nicht vorbereitet gewesen. Sie hatten Gehorsam gelernt in den Kasernen, aber das Sterben hatten sie nicht gelernt. Ihre erste Schlacht war ihre letzte. Gunther hat sich im Alter immer wieder an diesen Tag erinnert, als Historiker, der sich mit großer Hingabe Schicksalstage der Geschichte vergegenwärtigte. „Gedenke des Todes“ – er hatte früh gelernt, daran zu denken. Als Kind war Gunther schwer an Tuberkulose erkrankt, ein Lungenflügel hatte entfernt werden müssen. Er wusste, er musste behutsam mit sich und dem Leben umgehen.
Die Familie des Vaters hatte Russland schon einige Jahre vor dem ersten Weltkrieg verlassen. Die Mutter stammte aus einer wohlhabenden Frankfurter Kaufmannsfamilie. Geldsorgen gab es keine, dennoch ging die Ehe früh in die Brüche. Die beiden Söhne blieben bei der Mutter, die alles tat, um sie vor den Wirren der Zeit zu schützen. Zwar wurde die Altstadt Frankfurts schon im Herbst 1943 nahezu vollständig zerstört und viele Tausende starben, aber die Mutter hatte früh vorgesorgt und die Kinder auf dem Land unterbringen lassen. Sie selbst besuchte sie stets nur mit dem Fahrrad, Zugfahrten waren gefährlich.
Gunther war zu jung für das letzte Aufgebot, das Hitler und seine Generäle dem Feind entgegenwarfen, und zu sehr Kind, als dass seine Mutter ihn im zerstörten Frankfurt hätte aufwachsen sehen wollen. Sie schickte ihn nach Kriegsende auf die Odenwaldschule, die damals noch ihrem Ruf treu gewesen war, die Schüler zu denkenden Menschen zu erziehen. Gunther mied jeglichen Sport, aber er las jedes Buch, das er in die Hände bekam – und er hörte gern Jazz. Sein Traum war Amerika, und sein Talent war es, sich alle Lebensträume zu erfüllen. Ein Fulbright-Stipendium brachte ihn nach Richmond, Indiana, ein beschaulicher Studienort, wo er den „American Way of Life“ in seiner idyllischen Ausprägung kennenlernte, die Wohlstand für alle verhieß.
Die Frage ist einfach, die Antworten waren es auch, nur die Umsetzung fiel schwer
In Deutschland waren die Verhältnisse weitaus trostloser. Das zu ändern, studierte er Volkswirtschaft, Politik und Soziologie, die klassische Trias der Weltverbesserer. Was heißt es, ein gutes Leben zu führen? Die Frage ist einfach, die Antworten waren es auch, nur die Umsetzung fiel schwer. Mehr Bildung für alle. Gunther wurde Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Mannheim, aber der akademische Weg war ihm zu realitätsfern. Er wechselte in das Stadtplanungsamt. Mehr Wohnungen für alle, mehr Grünflächen und vor allem keine vernachlässigten Stadträume mehr, in denen Kinder und Jugendliche nur als Kriminelle Karriere machen würden.
„Die große Flatter“ erzählt die Geschichte zweier Jungs aus diesem Milieu, Joachim, genannt „Schocker“ und Richy, zwei, die rauswollen, aber die es nicht schaffen, was nicht nur ihre Schuld ist. Aus dem Buch von Leonie Ossowski wurde ein Fernseh-Dreiteiler, der viele Zuschauer wachrüttelte. Und aus der Begegnung der Sozialarbeiterin Jolanthe von Brandenstein, so der eigentliche Name der Autorin, mit Gunther, dem Dozenten für Soziales, wurde eine große Liebe. Sie hatte bereits sieben Kinder, als sie Gunther traf, und so war er der Pflicht der Familiengründung enthoben – wofür er sehr dankbar war. Die vier Töchter, die im Haus verblieben waren, versuchten anfangs alles, dem neuen Mann an der Seite ihrer Mutter zu beweisen, dass er der Falsche war. Was ihnen nicht gelang. Gunther blieb ihnen so beharrlich zugewandt, dass sie gar nicht anders konnten, als ihn lieb zu gewinnen. Das galt auch für die Enkel, die noch kommen sollten, und die ihn als „Apa“ adoptierten.
Gunther und Jolanthe zogen nach West-Berlin. Sie schrieb Bücher und Hörspiele. Er half bei der Recherche, dem Abschluss der Verträge, sicherte ihre Selbstständigkeit. Und arbeitete weiterhin als Dozent, aber nunmehr, zwecks Horizonterweiterung, mit dem Schwerpunkt Mittelamerika, was viele abenteuerliche Reiseziele vorgab. Die Neugier der beiden erlahmte nicht, wohl aber die Liebe. Die Trennung vollzog sich allmählich, und Gunther, dank seines Talents zum Glück, fand nach einigem Suchen die zweite große Liebe seines Lebens: Nuri, Dozentin für Sozialwissenschaften.
Ihr Vater, konservativ im Denken und akkurat im Tun, war Zeugwart beim FC Barcelona und beäugte den zukünftigen Schwiegersohn anfangs sehr skeptisch. Ein Deutscher, noch dazu ein Sozialdemokrat! Immerhin war sein Auftreten gepflegt, und er roch stets gut. Die Vorbehalte schwanden, und die folgenden 30 Jahre waren glückliche Jahre. Auch wenn Gunther gleich zu Beginn der Beziehung einen Herzinfarkt erlitt; er verstand die Warnung, ließ sich früh pensionieren und tat fortan alles mit bedachter Kraft. Er organsierte weiterhin Studentenaustausche und brachte Dozenten zusammen, er ging mit Nuri auf Reisen und achtete stets auf gutes Essen, bevorzugt in sehr feinen Restaurants, über die er sich vorab mit Akribie informierte – was die Kellner gelegentlich als Besserwisserei empfanden.
Vor fünf Jahren überstand er einen Schlaganfall. Er wurde langsamer, was Nuri zuweilen auf die Palme brachte. Aber sein Gleichmut ließ jede Aufgeregtheit schnell vergehen. Der Tod war nicht mehr fern, das wusste er, aber es sollte ein ruhiger Tod sein, so sein Wunsch. Nuri sollte bei ihm sein, und seine Asche sollte verstreut werden, denn er wollte seinen Körper nicht in der Erde vergraben wissen. Er wollte auch nicht wissen, woher die Schmerzen in den letzten Tagen rührten. Denn welchen Namen der Tod tragen würde, das war ihm egal. Nur einsam wollte er nicht sein in seinen letzten Stunden und ihren Atem noch einmal spüren. Wie immer haben sich all seine Wünsche erfüllt.
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