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Hans Diehl

© IMAGO/Agentur Baganz

Nachruf auf Hans Diehl: „Das Leben ist was anderes“

Manche spielen, weil sie nicht wissen, wer sie sind. Er wollte sich einfach verwandeln

Stand:

Zwei Frauen schlafen mit ihrem greisen, betrunkenen Vater - oder vergewaltigen sie ihn? Bemerkt er wirklich nichts? Sie tun das, weil es keine anderen Männer mehr gibt. Die Töchter wollen schwanger werden, sie werden schwanger.

Dann ist der Blick in den Inzestabgrund vorüber, die Schauspieler treten an den Rand der Bühne, das Publikum klatscht, der Mann, der eben noch der Vater war, verbeugt sich aufgeräumt, geht in seine Garderobe, wischt sich die Theaterfarbe und den Theaterschweiß aus dem Gesicht, zieht seinen hellen Côte-d’Azur-Anzug an, setzt seinen leichten Côte-d’Azur-Hut auf, tritt auf die Straße und ist wieder Hans. Hans Diehl. Nicht mehr Lot aus dem Alten Testament, aus Botho Strauß’ Stück „Lotphantasie“, inszeniert von Luc Bondy am „Theater in der Josefstadt“.

Ist er tatsächlich wieder Hans Diehl, dort auf der Josefstädter Straße, nachdem er aus der Garderobe und aus dem Theater herausgegangen ist? Ein anderer als der, der auf der Bühne stand? Wer ist ein Schauspieler? Ein Kollege von ihm hat gesagt, er wisse einfach nicht, wer er ist, und sei deshalb Schauspieler geworden. Hans Diehl war da anders. Einer seiner beiden Söhne beschreibt ihn als jemanden, der sich erst im Spiel vollkommen vergessen, verloren habe, gleich einem Kind, das nur noch dieses Spiel kennt. Der den Blick auf sich und also alle Bewusstheit, die eigene Person betreffend, ganz und gar überwand. Hans Diehl selbst sagte in einem Interview: „Was interessant ist, das sind Verwandlungen.“

Ein Hinüberwechseln

Das Theater war für Hans Diehl ein Rauskommen, ein Hinüberwechseln von der einen in die andere Welt, von der Offenbach-Welt, in der er seine Kinder- und Jugendjahre verbrachte, in jene der Kunst, des Flirrens, der Bewegung. Der politischen Abgrenzung gegen die Eltern, gegen ihr tosendes Schweigen, ihre Spießigkeit.

Doch vor der Kunst kam die Natur. Hans schloss sich der „Naturfreundejugend Deutschlands“ an, die sich als Teil der antifaschistischen Linken verstand, streifte durch die Wälder des Taunus, demonstrierte gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und atomare Aufrüstung – und kam zum ersten Mal mit dem Schauspiel in Berührung. Landschaft, Politik und Spiel waren miteinander verwoben. Hinausgehen ins Weite, Offene.

Er wollte Schauspieler werden, wusste jedoch nicht, wie er das anstellen sollte. Wich aus auf eine Zimmermannslehre, obwohl er die Ausbildung unerträglich fand. Er entdeckte eine private Schauspielschule, noch ohne die geringste Ahnung, dass auch staatliche existieren. Als er davon erfuhr, wechselte er an die Frankfurter „Hochschule für Musik und Darstellende Kunst“. Die entscheidenden Menschen damals waren sein Lehrer Hans Bauer und sein Jugendfreund Michael Gruner, Regisseur und Intendant.

Die Theater waren nach gängigem Prinzip abgezirkelte Räume, Guckkästen: Bühne, Vorhang, im Halbdunkel das Publikum, über dessen Köpfe die Darsteller hinwegsprechen. Ein eigenartiges Zusammenfallen: Theater als offener und gleichermaßen geschlossener Raum.

Und dann traf er Peter Stein. Künstlerischer Leiter der Berliner „Schaubühne“ am Halleschen Ufer. Eine neue Zeit, die Zertrümmerung des Alten. Mitbestimmungstheater. Jeder sollte so gut sein, um eine Hauptrolle spielen zu können, und sich gleichzeitig ins Ensemble einfügen. Sie brachen den Guckkasten auf, öffneten das Spiel in alle Richtungen, bezogen das Publikum ein. Die Schaubühne, schrieb der Spiegel 1970, sei „der wichtigste Versuch der letzten Dekade, das moribunde Feudaltheater deutscher Art durch neue Produktionsformen zu ersetzten“. Was der CDU offensichtlich Angst einflösste, sie sprach von einer „staatsfeindlichen, kommunistischen Zelle“, die eine Revolution anzetteln wolle. Richtig was los damals. Hans Diehl gehörte zehn Jahre dazu.

Etwas war zu eng

Es war eine gute, aufregende Zeit, doch irgendwann wollte er dort raus. Das Theater sei immer das Wichtigste gewesen, sagte er, „aber das ist eine künstliche Welt, das Leben ist was anderes.“ Er stopfte zusammen mit Gabriele, Kostümbildnerin und seine Frau, das Allernötigste in seine Ente, sie begaben sich ein Jahr auf große Reise, den Asian Highway entlang, über Afghanistan, bis runter nach Sri Lanka, damals noch Ceylon, und als sie angekommen waren, fiel die Ente mehr oder weniger auseinander.

Sie kehrten zurück, er spielte weiter als festes Mitglied der Schaubühne. 1980 stieg er dort aus und stand weiterhin auf den Bühnen großer Häuser unter Peymann, Ostermeier, Reese, arbeitete fürs Kino und fürs Fernsehen.

Aber etwas war zu eng. Eine „Lebenssehnsucht“ habe ihn getrieben, schon immer. Er hatte sich Jahre zuvor für einen lächerlichen Betrag ein Natursteinhaus in der Auvergne gekauft, ohne Strom, nur kaltes Wasser, dafür ein unfassbarer Blick über das Zentralmassiv. Ein Haus mitten in der Landschaft, Ziegen, Schafe. Er fühlte so etwas wie Freiheit, hier in Frankreich; dennoch blieb sein Französisch äußerst rudimentär. Es gab diesen Familienwitz: Er habe so viel Energie aufbringen müssen, seinen hessischen Dialekt loszuwerden, dass er davon ein für alle Mal erschöpft war.

Er reiste viel für seine Engagements. Fuhr regelmäßig los und stand einen Monat später wieder vor dem Natursteinhaus, mit seinem Koffer in der Hand, in seinem Anzug, nach Rasierwasser riechend, seine beiden Söhne und seine Frau öffneten ihm die Tür und sahen ihn an, ein wenig erstaunt, denn er schien tatsächlich aus einer anderen Welt zu kommen, einer fernen, städtischen Welt. Er brauchte ungefähr drei Tage, um wieder zu riechen wie sie. Zog dann ein Buch von Padraic Colum aus dem Regal, Der Königssohn von Irland“, und las seinen Söhnen daraus vor: Den Hund an der Seite / Den Falken auf der Hand, / Ein wackeres Ross trug ihn weit übers Land, / Und über ihm des Himmels Blau-

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