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Jens Rothe

© privat

Nachruf auf Jens Rothe: Kein Schnickschnack, kein Nippes

Mit Zahlen kam er gut zurecht, sie machten Sinn, gaben Ordnung und Struktur

Jens stand um vier Uhr auf, saß um fünf in der S-Bahn und um kurz nach sechs im Büro. Finanzamt Wilmersdorf, Sachbearbeiter, eigenes Büro, kein Schnick-Schnack an den Wänden, kein Nippes auf dem Schreibtisch. Am liebsten mochte er die Einkommensteuerveranlagung. Mit Zahlen kam er gut zurecht, sie machten Sinn, gaben Ordnung und Struktur. Manchmal hörte er nebenbei Radio, lief ein guter Song, schloss er die Augen und hörte zu.

Jens war korrekt, aber nicht herzlos. Keiner, der jedem Euro auf die Spur kommen wollte, der in jedem Steuerbürger einen Steuerhinterzieher vermutete. Wenn die Oma sich in ihrer Abrechnung um ein paar Beträge vertan hatte, dann zuckte er mit den Schultern. Hatte er aber den Eindruck, dass da jemand mutwillig beschiss und sich dabei auch noch dämlich anstellte, dann sagte er: Nee, das geht gar nicht!

Es gab eine Zeit, da waren sie nicht für Buchstaben, sondern für Berufsgruppen zuständig. Jens kümmerte sich um die Schauspieler und freute sich, wenn er welche davon im Kino oder im Fernsehen sah. Er wusste, wie es ihnen finanziell ging und gönnte ihnen den Erfolg.

„Manchmal mussten wir den Nasenbohrer ansetzen“

Jens genoss die frühen Stunden, wenn das Gebäude leer und die Gänge verwaist waren. Da durfte ihn keiner stören, falls überhaupt schon einer da war. Dann aber, wenn der Morgen vergangen war, ging er rum, sagte hier und da Hallo, und die Kollegen freuten sich über den Kollegen mit der guten Laune, auch wenn er keine Plaudertasche war und Gefühle und Persönliches lieber für sich behielt.

Zwei Kolleginnen ließen allerdings nicht locker, 27 Jahre arbeiteten sie zusammen, wie eine Familie sei ihre Abteilung gewesen, mit Ausflügen, Partys, Bowling und gemeinsamen Reisen. Jens war stets dabei. „Manchmal mussten wir bei ihm aber den Nasenbohrer ansetzen“, sagt eine von ihnen und lacht. Als zum Beispiel Jens‘ Tochter 18 geworden war, fragten sie ihn aus: Was habt ihr gemacht? Hat es dir gefallen? Wie ist es, eine erwachsene Tochter zu haben? Da hat Jens erst gestöhnt, dann nachgedacht und schließlich doch geantwortet.

Jens kommt aus Schwanebeck am nordöstlichen Stadtrand von Berlin, hier haben seine Eltern ein Haus, hier hat er mit seinem Vater Tischtennis gespielt und mit den anderen Jungs Fußball auf der Wiese. Sein Vater war Elektriker, seine Mutter arbeitete in der Krankenhausverwaltung. Jens war ihr einziges Kind und wohlbehütet. Und Jens war der netteste Junge der Klasse, so sagen es die alten Freunde. Irgendwann ließ er sich seine blonden Haare bis zu den Schultern wachen, fuhr Motorrad und hörte die „Doors“. Ein Rebell war er dennoch nicht. Tischtennisverein, eine erste Freundin, mit der er viele Jahre zusammenblieb, Armeedienst, aber nur ein Jahr, denn dann fiel die Mauer.

Was sollte er mit seinem Leben anfangen? Er liebte Zahlen, ein guter Job sollte es schon sein, doch seine Haare wollte er nicht abschneiden. Eine Karriere bei Bank fiel damit aus. Dann eben das Finanzamt. Erst die Ausbildung, dann seine erste Stelle in Wilmersdorf. Hier blieb er, ließ sich nicht befördern, ließ sich nicht versetzen, 27 Jahre lang.

Nadja war solo, Jens war solo. „Dit wäre doch eine für dich“, sagten Jens‘ Freunde. Die beiden passten zusammen, nicht verrückt, nicht flippig, bodenständig und korrekt. Sie hatten sich auf einer Gartenparty kennen gelernt, sahen sich bei einem Lagerfeuer wieder, schauten sich zusammen die Fußballweltmeisterschaft an, gingen zur Bundesgartenschau. Nadja wusste, dass es Jens sein würde, der Mann für immer. In der Beziehung davor war sie die, die entschied. Jens wusste, was er wollte. Was nicht hieß, dass er alles bestimmen durfte, auch wenn er gewollt hätte. Gleichberechtigt sollte es bei ihnen sein. Am 22. Juni 2002 hat sie sich für ihn entschieden, der 22. war von da an ihr Tag, jeden Monat. Da gingen sie zusammen essen, kauften Blumen.

Über den Balkon ins andere Treppenhaus

Nadja hatte schon einen Sohn, Jens nahm sich seiner an. Als sie 2005 eine Tochter bekamen, war sein Glück perfekt. Er fotografierte sie, wie sie größer und größer wurde, machte sie einen Pieps, sprang er auf. Die Familie war auch einer der Gründe, warum er immer so früh zu Arbeit fuhr. Dann konnte er früher nach Hause. Nur geduldig war er nicht, bei den Hausaufgaben helfen, Radfahren beibringen, das machten besser seine Eltern.

Erst wohnten sie in der Stadt, in Pankow, im obersten Stock. Eines Nachts brach in einer Wohnung unter ihnen ein Brand aus, Rauch und Flammen schlugen nach oben. Sie holten die Kinder aus den Betten, griffen die Schulmappe vom Sohn, die Babyschale mit der Tochter, kletterten von ihrem Balkon zum Nachbarbalkon und durchs andere Treppenhaus nach unten.

Sie hatten nichts mehr, sie schliefen einen Monat im Hotel. Seitdem machte Jens immer mehrere Kopien seiner Computerdaten, seine Musiksammlung mit über 2000 CDs, die nummeriert in einem großen Regal im Schlafzimmer standen, hat er selbstverständlich auch kopiert. Sie suchten sich ein Grundstück und fanden eins - in Schwanebeck, gleich neben seinen Eltern. 2006 war das.

Im Tischtennisverein war Jens einer der besseren. Er kümmerte sich auch um die Bestenlisten, jahrzehntelang notierte er die Siege und Niederlangen aller Spieler, wusste wer wo stand, wer wann Jahresbester gewesen war. Wenn er selbst verlor, konnte er grantig sein, aber nur in dem Moment. Wenn jemand im Verein meckerte, sagte er: Mach einen Vorschlag. Wer soll das machen? Wie ist der Zeitplan? Dann war Ruhe.

Und es gab die Radtouren mit seinen Jungs, die er Jahr für Jahr organisierte: die Übernachtungen, die Pausen, die Raststätten, da gab es keine Zufälle. Die Frauen fragten sich, was ihre Männer in den Tagen alles über sie reden würden. Gar nichts, beteuerten diese, es ging um Fußball, Autos, Fahrräder. „Jens hielt das alles zusammen“, sagt ein Freund. „Das fehlt jetzt.“

Jens starb an einem Herzinfarkt. Zu seiner Beerdigung war seine Abteilung vom Finanzamt da, allesamt. Danach pflanzten sie Blumen in den Garten. Das hatten Nadja und Jens als nächstes vorgehabt.

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