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Nachruf auf Jürgen Linke: Von jetzt auf gleich
Er war der tolle Onkel. Und auf einmal kam er nicht mehr. Warum war er verschwunden?
Stand:
Jürgen war ihr Onkel. Und was für einer. Als sie fünf war, nahm er sie in den Arm, und tanzte mit ihr durchs Wohnzimmer. Jürgen war so anders als ihr Vater, lebensfroh, „mit Charme und Esprit“.
Aber plötzlich, von jetzt auf gleich, kam er nicht mehr. Kein Kontakt mehr. Es hatte Streit gegeben zwischen ihm und seinen Geschwistern, aber musste er deswegen jeder Begegnung aus dem Weg gehen? Als sein Bruder, ihr Vater, dement wurde, rief sie ihn an, nach über 30 Jahren: „Wenn du ihn noch einmal erleben möchtest, dann jetzt.“
Jürgen war der Jüngste. Sein Halbbruder elf Jahre älter, seine Halbschwester 14. Jürgens Vater war ein Binnenschiffer, der wochenlang auf den Flüssen Deutschlands unterwegs war und sich um die Familie wenig kümmerte. Die Mutter, gutmütig und liebevoll, musste auch das Geld ranschaffen. Sie arbeitete bei Schering am Band. Es war vor allem der Halbbruder, der Jürgen großzog. Er machte mit ihm Hausaufgaben, las ihm vor und hütete ihn, wenn er krank wurde. Die Mutter machte Überstunden, legte Geld zurück, bis sie sich die Eigentumswohnung in Reinickendorf leisten konnte.
Streit um die Wohnung
Die Geschwister zogen nach und nach aus, Jürgen blieb bei der Mutter, machte die Lehre als Starkstromelektriker, holte auf der Abendschule die Mittlere Reife nach, studierte an der Fachhochschule Elektrotechnik. Ob es Freundinnen gab, ist nicht bekannt. Ob es zu dieser Zeit noch andere Interessen außer Lernen und Arbeit gab, auch nicht. Mit seiner Mutter verreiste er, ging mit ihr ins Kino und ins Theater. Als sie 1979 starb, blieb er allein in der Reinickendorfer Wohnung.
Und über diese Wohnung gab es Streit mit den Geschwistern, die Jürgen auf seine Art regelte: Er sprach kein Wort mehr mit ihnen. Selbst als seine Nichte anrief, 30 Jahre später, konnte Jürgen nicht über seinen Schatten springen. Zu viel Zeit sei vergangen, der Graben zu tief, sagte er später zu ihr. Zur Beerdigung des Bruders kam er dann doch. Ob sie ihm böse deswegen war? „So war er halt. Wenn ihm etwas nicht passte, eine Meinung, ein Verhalten, dann wollte er mit den Menschen, auch mit Freunden, nichts mehr zu tun haben.“
Sie aber mochte ihn immer noch, machte den ersten Schritt, ging zu seinem Geburtstag, besuchte ihn. Er erzählte ihr, dass es einmal eine Frau gegeben habe, die Schwung in sein Junggesellendasein brachte. Sie reisten durch die Welt, gingen tauchen, die Ehe hielt neun Jahre, dann war er alleine.
Und arbeitete umso mehr, als Kraftwerkstechniker, als Warmwalzentechniker, bei der Gasag, bei Siemens und bei einem Netzbetreiber. Mit Akribie und Begeisterung versenkte er sich auch zu Hause tagelang in technische Details: Computer, Telefone, Fernseher, Drucker, Scanner – immer hatte er die neuesten und von einigen mehrere Ausführungen. Dass er seine Freunde darüber vergaß, bereute er. Als er in Rente musste, wusste er nichts mit sich anzufangen.
Jürgen hatte einen Nierenschaden, jahrelang ging er zur Dialyse. Eines Nachts kam der Anruf aus dem Krankenhaus: Es sei eine Niere da, aber von einem älteren Menschen. Die würde zwei, drei Jahre halten. Ob er sie wolle. Jürgen war hin- und hergerissen. Würde sich das lohnen, das Risiko, die vielen Wochen im Krankenhaus? Er willigte ein.
Jürgen kochte nicht, Jürgen ging essen, beinah jeden Tag. Die Torten zum Nachtisch mochte er am liebsten. Käsekuchen mit Sahne! Am besten, wenn er jemanden dazu einladen konnte, seine Nichte zum Beispiel. Da saßen sie dann zwei, drei Stunden, sprachen über die Familie, die Gesellschaft, die Politik. Sie merkte, dass er einsam war. „Probier’s doch mal mit dem Online-Dating“, schlug sie vor.
Er traute es sich, legte sich ein Profil an – und fand Rosalie. So nannte er sie, Güler hieß sie und stammte aus der Türkei. Er war richtig verliebt. Sie verbrachten die Tage zusammen, reisten an die Ostsee, sie stellte ihn ihrer Familie vor.
Wegen eines Infekts musste er ins Krankenhaus, kam wieder raus, alles schien gut zu sein, doch drei Tage später war er tot. Gestorben, in seiner Wohnung zwischen all den Handys, Laptops und Fersehern.
Als er in Rente musste, wusste er nichts mit sich anzufangen
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