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Jutta Klose

© Mike Wolff

Nachruf auf Jutta Klose: Löcher in der Seele

Noch mit 81 hoffte sie, dass der junge Prinz käme, der ihr geben würde, was das Leben ihr schuldig geblieben war

Von Miriam Schröder

Stand:

„Schuhe aus!“ rief sie den Besuchern noch aus dem Sterbebett entgegen. Sie war streng, auch wenn sie noch so flirtete. Gefiel ihr jemand, ließ sie Milde walten. Aber nicht beim Teppich.

Auf Socken hatte man ihre vier Zimmer zu durchqueren. Schlafzimmer, kleines Zimmer, Arbeitszimmer, Herrenzimmer. Letzteres wurde der schweren dunklen Möbel wegen so genannt, Erbstücke vom Vater. Fast ihr ganzes Leben hat Jutta Klose in Schöneberg gewohnt, 55 Jahre davon in der Vorbergstraße, die meiste Zeit allein.

Bekannte hatte sie viele. Und sie war bekannt, wenn auch den meisten nicht mit Namen. Die Rothaarige, ja klar! Jutta fiel auf, mit dem Henna in den Haaren und den kurzen Röcken in einem Alter, über das sie nicht sprach. Sonst sprach sie alles an, und jeden. Wie ein Kind, ein neugieriges, reizendes, zuweilen anstrengendes.

Als sie vier war, nahm ihre Mutter sich das Leben. Der Vater starb, da war sie acht. Die Stiefmutter prügelte, eine Lehrerin sah es und nahm Jutta bei sich auf. Es gab zwei Bedingungen: sie musste die Pflegemutter siezen und durfte sie nicht anfassen. Umarmungen gab es nur im Kohlenkeller, beim Knutschen mit den Nachbarsjungen.

Dann flog sie wieder raus

Die Nachbarn tuschelten, Jutta kam ins Mädchenwohnheim. Da gab es Putzdienst und streng kontrollierten Ausgang. Gestört hat sie das nicht. Wohin hätte sie gehen sollen? Die Pflegemutter gab ihr noch eine Chance. Wieder rebellierte Jutta, hörte nächtelang amerikanisches Radio und wünschte, jemand käme und schickte sie ins Bett. Dann flog sie wieder raus.

Ein paar Jahre lebte sie in einem Keller. Wenn sie abends durch das kleine Fenster die Füße des Polizisten aus dem ersten Stock sah, fing sie ihn an der Haustür ab und fragte, ob sie bei ihm baden dürfe. Manchmal durfte sie auch zum Abendbrot bleiben. Sie war jung, sie war schön und sie hatte früh verstanden, dass das ihre Chance auf ein bisschen Zuneigung war.

Als einziges der Mädchen aus dem Heim hatte Jutta ihr Abitur gemacht. Sie spülte Teller in der Kantine vom Karstadt am Hermannplatz, sie studierte und wurde Grundschullehrerin. 1969 bekam sie die Wohnung in der Vorbergstraße. Ohne Badewanne, mit Bombenschäden, dafür dritter Stock, Vorderhaus. Der Polizist trug ihre Habseligkeiten nach oben. Von da an wusch sie ihre Haare bei dem freundlichen älteren Herrn von gegenüber.

Im Flamingoclub auf der anderen Straßenseite spielten „Ton, Steine, Scherben“. Jetzt begann ihre gute Zeit.

Affären gab es

Die Arbeit sei ein Geschenk gewesen, sagte sie, „jeden Tag Premiere mit einem dankbaren Publikum.“ Sie liebte ihre Schüler, vor allem die wissbegierigen. Die anderen ignorierte sie, solange sie nicht störten. So, wie sie auch den Stundenplan ignorierte und die missbilligenden Blicke der Kolleginnen, wenn sie mit den Vätern der Kinder flirtete.

Eine feste Beziehung hat sie nie geführt. Affären gab es, aber die meisten waren nicht lieb zu ihr, und zu den Lieben war sie meistens nicht nett.

Sie füllte ihr Leben mit Kultur und mit Reisen, sie interessierte sich für alles, nahm mit, was sie kriegen konnte, vor allem, wenn es umsonst war. Sie besuchte ein Beuys-Ausstellung mit dem gleichen offenen Staunen wie das Bordell, das eine alte Schulfreundin betrieb. In beiden Fällen sparte sie nicht mit Kritik, wobei die an Beuys härter ausfiel.

Jutta konnte sehr hart sein, manche sagen: streitsüchtig. Sie konnte auch weich sein. An keiner Zu-Verschenken-Kiste kam sie vorbei, ohne Mitleid zu empfinden mit Dingen, die keiner mehr haben wollte. Ein vertrockneter Kaktus, ein alter Blumentopf, Gartenzwerge, alles fand einen Platz in ihrer Wohnung, bis sie nur noch auf verschlungenen Wegen zum Balkon durchkam.

Wie die efeuähnliche Pflanze, die über Schränke und Tische wucherte, zu ihr gekommen war, wusste sie nicht mehr. Jeden Ableger nahm sie auf und stellte ihn ins Wasser, bis er Wurzeln schlug. Sie brauchte einen halben Tag, all ihre Pflanzen zu gießen, immer montags. Das gab ihr Struktur.

Als sie nicht mehr arbeitete, wurden die Museumsbesuche ihr Lebensinhalt. Zurück zu Hause heftete sie Parkticket und Eintrittskarte in Ordnern ab, zusammen mit der Ausstellungsbesprechung aus der Zeitung und handschriftlichen Notizen. Weit mehr als hundert Ordner standen auf Regalen und auf dem Boden, gefüllt auch mit Kochrezepten und Beziehungstipps, dazwischen Naturwissenschaftliches und Kunsthistorisches.

Messie, raunten die Nachbarn. Der Gedanke war Jutta nicht fremd. Artikel dazu hat sie auch gesammelt. Messies, stand in einer Zeitung, versuchten, mit dem Sammeln die Löcher in der Seele zu stopfen.

Ihre Löcher taten sich immer sonntags auf, am schlimmsten war es Weihnachten. Einen Zeitungsartikel von 1977 hat sie aufgehoben, Überschrift: „Lasst die Sterbenden nicht allein“. In der Klarsichthülle steckt ein mit Schreibmaschine beschrifteter Zettel: „Lasst Jutta Klose nicht allein!“

Es gab viele, die sich um sie kümmerten, als es dem Ende zuging. Die ihre Hand hielten, Pillen und Papiere sortierten, und die jetzt dafür sorgen, dass die Dinge, die sie aufgelesen hatte, wieder ein Zuhause bekommen.

Für die Frauen und Männer vom Palliativdienst und die Ärzte, hat Jutta sich bis zuletzt die Haare hochgesteckt, hat sie um den Finger gewickelt, mit ihrem Witz und ihrer Bedürftigkeit. Es war leicht, ihr nahe zu kommen. Es war nicht immer leicht, ihre Nähe zu ertragen. Sie hatte Freundschaften, auch enge, lange. Doch sie stieß Menschen immer wieder von sich weg, war schnell beleidigt und lange nachtragend. Mit 81 sprach sie noch davon, dass bald der Prinz käme, ein junger, hübscher, der sie holen und ihr geben würde, was das Leben ihr schuldig geblieben war.

Der Prinz, ach, er kam nicht mehr. Aber es gab einen, der für sie einkaufte, ihr die Zeitung brachte und hörte, was sie zu sagen hatte, fast jeden Tag, über 20 Jahre. Er gießt noch heute die Blumen auf ihrem Grab. Dabei haben sie einander nicht einmal geduzt. Ihre Wohnung wollte er erst betreten, als sie zu schwach war, um sich an der Tür zu unterhalten. Mit Hausschuhen ließ sie ihn hinein.

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