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Ursula Fellenberg

© privat

Nachruf auf Ursula Fellenberg: Ihr Rezept gegen Kummer: Köpfchen

Das half über manche Enttäuschung hinweg. Ihre große Liebe etwa war wie die der zwei Königskinder

Stand:

Der VW-Käfer, Modell 1300 Limousine, verfügte über 40 PS und beschleunigte von 0 auf 100 km/h in 24,4 Sekunden, was Überholmanöver zuweilen schwierig gestaltete. Die Höchstgeschwindigkeit betrug auf ebener Strecke 125 km/h, mit Rückenwind und bergab deutlich mehr. Der VW-Käfer lief und lief und lief, denn er war zuverlässig, und die mobile Offenbarung der Freiheit für jedermann - und für jede Frau. Sofern sie die Erlaubnis des Ehemanns erhielt, den Führerschein zu machen. Ursulas Gatte kränkelte, also überließ er ihr gern das Steuer. Sohn und Tochter wurden in das Auto gepackt sowie das Notwendigste an Gepäck. Ursula drehte das Radio laut auf und wenn Hildegard Knef sang „Für mich soll’s rote Rosen regnen“, sang sie lautstark mit. Denn fortan stand ihr die Welt offen, sobald sie die Grenzkontrollen der DDR passiert hatte.

Ursula war in Berlin Spandau zur Welt gekommen. Ihr Bruder starb noch als Kind an einer Mittelohrentzündung. Aber sie war nicht einsam. Das Glück im Unglück war die Kinderlandverschickung. Sie war eins von über zwei Millionen Kindern, die in den Kriegsjahren aufs Land evakuiert wurden. Ursula kam nach Thüringen, Orlamünde, und Gisela, die Tochter der Gastfamilie, wurde ihre Wahlschwester und blieb es auch nach dem Mauerbau.

Ursulas Eltern ließen sich kurz nach dem Krieg scheiden. Ihren Stiefvater mochte sie nicht, und so zog sie mit 17 aus. Sie begann eine Ausbildung bei der Post, bezog ihr eigenes Zimmer, verliebte sich in Hans Ferdinand, der auch bei der Post arbeitete, und wurde umgehend Mutter. Eine Tochter, ein Sohn, ein kleines Häuschen, das Leben schien verplant, noch ehe es richtig für sie begonnen hatte. Urlaub wurde im „Posterholungswerk“ gemacht, die Familientherapie fand beim „Mensch ärgere dich nicht“-Spiel statt. Sonntags kam das gute Geschirr auf den Tisch. Die Kinder hatten sich allerdings auch wochentags manierlich zu benehmen.

Als sie das Gefühl hatte, dass Sohn und Tochter groß genug waren, um ihre Entscheidung verstehen zu können, ließ sie sich 1972 von Hans Ferdinand scheiden. Sie bezog ihre eigene kleine Wohnung in der Reichsforschungssiedlung in Haselhorst, errichtet in den frühen 30er Jahren, um der Wohnungsnot zu begegnen. Dort blieb sie 52 Jahre. Zur Post kehrte sie nicht zurück, stattdessen ließ sie sich zur staatlich anerkannten Masseurin und medizinischen Bademeisterin ausbilden. Sie mochte Menschen und hatte gern mit ihnen zu tun.

Kontakte zu Fluchthelfern

Und sie ließ sich ungern vorschreiben, wen sie wo treffen durfte. Ursula akzeptierte die deutsche Teilung nie. Da hielt sie es mit Willy Brandt. Regelmäßig fuhr sie nach Thüringen, um Gisela zu besuchen, und sie reiste oft nach Hiddensee, der Landschaft und der Menschen wegen. Sie verliebte sich bei einem dieser Urlaube in einen Mann, der raus aus der DDR wollte. Ursula stellte Kontakte zu Fluchthelfern her. Die Flucht gelang. Aber eine große Liebe wurde nicht daraus, denn die Gefühle des Mannes erkalteten im Westen recht rasch. Die Neugier der Stasi hingegen ließ nicht so schnell nach, wie Ursula nach dem Mauerfall in ihren Akten nachlesen konnte.

In der Liebe hatte sie kein Glück, zumindest keins von Dauer. Ihre große Liebe war eine wie im Märchen, zwei Königskinder teilten ihre Wünsche, ihre Sehnsüchte, aber sie konnten zusammen nicht kommen, denn er war bereits gebunden. Ein Bild von ihm stand bis zu ihrem Tod im Regal, er starb 30 Jahre vor ihr.

Die Kinder versuchten, sie zu überzeugen, einen neuen Gefährten zu finden, aber sie blieb seinem Andenken treu. Ihr Rezept gegen Kummer: Köpfchen. Sie lernte mit 60 Jahren Altgriechisch, im Französischen und im Englischen war sie ohnehin recht sicher. An Instrumenten spielte sie die Klarinette und das Klavier. Einsam wurde es nie um sie, denn sie war ein treuer Mensch. Da waren, neben Gisela, noch ihre zwei Freundinnen aus der Grundschulzeit, mit der einen brillierte sie Jahr für Jahr in einer Aufführung von „Peter und der Wolf“.

Sie half als Babysitterin bei einer befreundeten Familie, sorgte sich in der Nachbarschaftshilfe um die älteren Herrschaften um sie herum, und bot Lesehilfe für Flüchtlinge an, noch bevor die Behörden auf die Idee kamen. Sie hatte Zeit für viele Menschen, weil sie sich die Zeit nahm. Bei der Berliner Bahnhofsmission wurde sie gebraucht, ein an Aids erkrankter Insasse einer Haftanstalt wurde von ihr betreut, und wenn dann doch einmal ein Stündchen freie Zeit blieb, erkämpfte sie sich ein goldenes Sportabzeichen nach dem anderen. Mit ihrem ersten Enkelkind wagte sie sich mit über 60 Jahren auf Rollerblades, ansonsten blieb sie durch und durch vernünftig und zuverlässig. An Geburtstagen gab es Nusskuchen, zu Weihnachten Lebkuchen nach eigenem Rezept.

Als sie auf die 70 zuging, ließ ihr Körper sie mehr und mehr im Stich, was sie beharrlich missachtete. Sie wollte selbständig bleiben. Die Haushaltshilfe durfte einkaufen, mehr nicht. Den Rest erledigte sie selbst, auch wenn sie die Vorhänge nur noch unter Schmerzen aufhängen konnte.

Der Körper hat vom Kopf her zu funktionieren. Deswegen achtete sie auch stets auf ein gepflegtes Äußeres, denn das spiegelt den intakten Geist. Ihre Disziplin hielt sie lange aufrecht. Erst als die Gebrechen sie immer mehr niederdrückten, suchte sie die Hilfe der Ärzte.

Vor dem Krankenhausaufenthalt ging sie zum Friseur und zur Maniküre. Sie wollte eine Operation, die ihr wieder auf die Beine helfen sollte, eine riskante Operation, die misslang. Sie war bei Bewusstsein, aber bettlägerig fortan. Eine zweite Operation stand zur Diskussion. Sie lehnte ab. „Ich hab ein schönes Leben gehabt, ich möchte nicht als Pflegefall irgendwo vegetieren“, erklärte sie ihren Kindern. „Verabschiedet euch lieber von einer Lebenden als von Gemüse.“

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