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Ursula Schiller

© privat

Nachruf auf Ursula Schiller: Rationalität als oberstes Gebot

Versuche, über heikle Dinge zu sprechen, endeten eher früher als später bei der Oktoberrevolution

Stand:

Die Mutter weinte oder blieb stumm, der Vater schrieb Briefe an seinen toten Sohn. Tränen und Schweigen. Wenn die Eltern etwas sagten, dann: „Der arme Ulrich.“ Überall Ulrich, ein überlebensgroßer Toter in der Hauptrolle, in den Nebenrollen Ursula, die vier Jahre Ältere, und ihre Schwester Walfriede, die Jüngste.

Ulrich, gerade drei, war vom Vater immer wieder dieser Satz eingebläut worden: „Du darfst keinen Schmerz zeigen“, also hatte er keinen Schmerz gezeigt. Und dann war es zu spät gewesen, für die Operation am Blinddarm.

Alle litten. Die Töchter fühlten sich unwert. Wie soll man gegen einen Toten ankommen. Dabei hatte für Ursula alles fröhlich-anekdotisch begonnen. Sie stand sozusagen schon vor ihrer Geburt auf der Bühne, denn ihre Mutter, Elfriede Florin, war Schauspielerin und hatte, bereits schwanger, ein Engagement in Breslau angenommen, wo Ursula dann auch zur Welt kam. Ihr Vater, ein Dramaturg, schloss sich nach dem Krieg in West-Berlin einer Gruppe an, die sich gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik auflehnte. Er geriet ins Visier der Behörden. In Ost-Berlin feierte man ihn als Friedenshelden und bot ihm an rüberzukommen. Also zog die Familie um und führte ein recht spezielles Leben im Arbeiter- und Bauernstaat, ein Künstlerdasein verwoben mit politischen Funktionen. Der Vater, erst Stalinist und dann nicht mehr, arbeitete beim Fernsehen der DDR, die Mutter spielte im Film und auf dem Theater und war Mitglied der Stadtverordnetenversammlung.

Gefühle? Letzten Endes Firlefanz

Ursula selbst war hin- und hergerissen, folgte den Eltern in ihrer Haltung, trat der SED bei, versuchte überall, Leute vom Sozialismus zu überzeugen. Wollte sich in gleichem Maße aber abgrenzen von der dominanten Mutter mit den Allüren, wollte eine strenge, reine Intellektuelle werden. Rationalität als oberstes Gebot. Gefühle? Letzten Endes Firlefanz. Kleine, belanglose Gespräche kamen nicht vor. Wie geht’s? Wie schön die Sonne heute scheint... Ausgeschlossen!

Was nicht hieß, dass es keinerlei Wärme gab. Sonntags lang im Bett bleiben und wild toben. Um dann aber auch, wenn sich alle wieder beruhigt haben, aus der „Odyssee“ vorzulesen. Sie hörte Weill und las Brecht, Leichtes wurde verpönt. Ich habe sie nie weinen gesehen, sagt eins ihrer Kinder. Versuche, über heikle, private Dinge mit ihr zu sprechen, endeten eher früher als später bei der Oktoberrevolution.

Sie begann ein Germanistikstudium und heiratete einen Germanisten. Sie bekam ihre ersten beiden Kinder, und hörte auf zu studieren. Dieter, ihr Mann, saß in seinem Zimmer, schrieb Bücher über Exilliteratur, während alle anderen still zu sein hatten. Ursula erledigte den Haushalt. Doch wohin mit ihrer Intelligenz, ihrer Belesenheit, ihrer Sprachbegabung? Das waren doch die Dinge ihres Lebens, auf die es ankam. Nicht die Winzigkeiten des Alltags, kein sanftes Streichen über die Stirn.

Die Tochter ging in den Westen, die Mutter war entsetzt

Sie raffte sich auf. Dolmetschte aus dem Französischen für den Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst. Machte eine Ausbildung zum „Facharbeiter für Schreibtechnik“. Bekam ein drittes Kind. Ließ sich scheiden. Belegte einen Fernstudiengang in Kultur- und Literaturwissenschaften. Als sie 1986 damit fertig war, ging ihre älteste Tochter in den Westen. Ursula war entsetzt. Ja, sicher, es gab einiges Kritisches über die DDR zu sagen, aber die prinzipielle Idee, die konnte man doch nicht einfach verwerfen. Es kann vieles misslingen, kaputtgehen, doch die Ideen überdauern, bilden eine Art Schutzschild gegen die Anwürfe des Lebens – hat sie sich das so vorgestellt?

Abgesehen von den Widrigkeiten im Land und in der Familie, kämpfte sie lebenslang noch gegen etwas anderes, gegen ihren Körper. Oder der Körper gegen sie. Schon in jungen Jahren hatte man ihr Epilepsie diagnostiziert. Keine vererbbare, sondern eine, die möglicherweise aufgrund eines Sturzes entstanden war, der eine winzige Narbe in ihrem Gehirn hinterlassen hatte. Niemand wusste, wann der Sturz stattgefunden haben soll, es kann irgendein unbedeutender Kinderunfall gewesen sein. Trotzdem fühlten sich die Eltern schuldig. Die Anfälle waren scheußlich, für alle. Ursula flocht ihrer sechsjährigen Tochter Zöpfe, und plötzlich begann sie sich zu schütteln, Schaum vor ihrem Mund, der ganze Körper verkrampfte. Das alles dauerte nur Sekunden, doch Ursula erschien es unendlich lang, hinterher fühlte sie sich, als habe sie Stunden Schwerstarbeit geleistet.

Sie nahm Medikamente und es war, als legte sich ein dumpfer Schleier um ihren Kopf, eine Katastrophe für sie, die das Denken über alles stellte. Sie nahm keine Medikamente mehr und zeigte sich in der Folge zunehmend halsstarrig. Diese kluge, schöne Frau steckte fest zwischen ihren Wünschen, Vorstellungen, Möglichkeiten und dem, was ihr Körper ihr diktierte. Und doch hatte sie ja eine Menge geschafft, drei Kinder, zwei Studien, ihre Arbeit bis 1992, in der Abteilung für Darstellende Kunst an der Akademie der Künste.

Das Ende der DDR schockierte sie. Und führte dazu, dass sie endlich ihre ausgereiste Tochter wiedersah. Sie ging mit knapp 60 in Rente, sie zog in die Torstraße, fuhr nach Tunesien, hatte ununterbrochen Ideen, die sie wieder fallen ließ. Sie las Simenons Maigret-Romane im Original. Sie machte bei der PDS und den Linken mit. Aktivierte Leute für Ausstellungsbesuche und Theaterabende. Es war ihr immer leichtgefallen, mit Menschen in Kontakt zu kommen, Freundschaften zu halten hingegen, gelang ihr selten.

Hätte vieles anders, vielleicht besser in ihrem Leben laufen können? Eine Frage, die man schlussendlich jedem stellen kann.

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