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Nachruf auf Uwe Mai: Kein Mitleid!
Was er jetzt noch konnte, würde er morgen oder übermorgen nicht mehr können. Also Jetzt!
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Es gibt dieses Foto, da sitzt er auf einer Piazza in Rom mit Sonnenbrille auf der Nase und tief ins Gesicht gezogenem Hut. So cool, wie er da aussieht, wäre er gern gewesen, hat er mal gesagt.
Mag sein, dass er dem Sonnenbrillenkonzept von cool eher nicht entsprochen hat. Seine Mitschüler ließen ihn das spüren, denn er war klein und als einziges Kind seiner Eltern über alle Maßen behütet, er interessierte sich für den Flugzeugmodellbau, ein einsames, geselligeren Teenagern schwer vermittelbares Unterfangen. Auch im Unterricht lief es nicht gut, in der Neunten blieb er sitzen.
Und alles wurde besser. Er wurde Schülersprecher, für die Klasse, für die Schule, fürs ganze Saarland. Er machte bei der Schülerzeitung mit, wurde Chefredakteur und stand einen echten Schülerzeitungskampf durch. Es ging um ein Tucholsky-Gedicht, das sie abdrucken wollten, und das der schwer konservative Direktor für anstößig hielt. Uwe bestand auf Veröffentlichung, der Direktor auf Unterlassung, die Angelegenheit schug Wellen bis ins Kultusministerium, der „Spiegel“ berichtete, Uwe gewann. Und merkte sich bis an sein Ende, wie die Lehrer hießen, die pro und contra waren. Im Vergessen war er nicht besonders gut, folglich wurde er Historiker.
800 Kilometer und ein Stück Warschauer Pakt
Dafür zog er nach West-Berlin, und stellte zufrieden fest, dass ihn nunmehr 800 Kilometer und ein Stück Warschauer Pakt vom Ort seiner Herkunft trennten. Doch offensichtlich hatte er da noch was zu klären: Er beschäftigte sich mit der Geschichte seiner alten Heimat während des 2. Weltkrieges und schrieb darüber sein erstes Buch. Das Thema weitete er aus, über Jahre befasste er sich mit der rassistischen Raumpolitik der Nazis. Akten um Akten, Tabellen, Strukturen: das Grauen in bürokratischen Vorgängen und Zahlen. Wer sich damit befasst, muss schon von besonderer Natur sein.
Als Ursula ihn kennen lernte, war von dieser spröden Seite nichts zu spüren. Er stand bei einer Geburtstagsfeier ihres Nachbarn in der Küche, sie wollte nur einen Bräter vorbeibringen. So gut wie er kochte, erzählte er auch, Ursula vergaß, dass drüben in ihrer Wohnung ihr Freund auf sie wartete, die Dinge nahmen ihren Lauf, bald darauf hieß Ursulas neuer Freund Uwe.
Dass er ein Nerd war, der tief abtauchte in trockenste, zuweilen grauenhafte Sphären, so tief, dass er für sie kaum erreichbar war, einzelgängerisch, asketisch, das fand Ursula bald heraus. Die Konsequenz, mit der er seine Dinge verfolgte, faszinierte sie auch. Sie war da anders, studierte ein wenig hier, ein wenig dort, interessierte sich für viel zu viel, wünschte sich etwas von seiner Struktur.
Jenseits seiner versunkenen Welt war er lustig und gesellig. Und wenn der Exil-Saarländer seine ganze Zielstrebigkeit in der Küche auslebte, war allen gedient.
Dass er unheilbar krank war, Multiple Sklerose, erfuhr er mit 28. Man kann nicht sagen, dass er an der Krankheit litt, damals; hin und wieder dieses Taubheitsgefühl und das eingetrübte Sichtfeld, nichts womit man nicht leben konnte. Dass der diagnostizierende Arzt der Sohn eines bekannten Flugzeugkonstrukteurs war, interessierte Uwe mehr als die Diagnose. Von der durfte Ursula niemandem erzählen. Kein Mitleid!
Die Formel, die das gute Dasein bestimmte
Er arbeitete weiter, Bücher, Projekte, er promovierte, bedauerlicherweise nur magna cum laude, nicht summa cum laude. Am 30. März 1998 verteidigte er seine Dissertation und eilte danach in den Kreissaal, wo Ursula am nächsten Morgen um fünf Ludwig zur Welt brachte. Das Leben nahm seinen Lauf.
Wie Uwes Krankheit den ihren. Er war nicht mehr sicher auf den Beinen; weit schlimmer aber: seine Konzentrationsfähigkeit ließ nach. Es fiel ihm immer schwerer, Texte zu verfassen. Uwe war 37, als er die Berufsunfähigkeitsrente beantragte.
Die Fähigkeit, seine Krankheit weitgehend zu ignorieren, behielt er bei. Das war ungünstig, wenn es um Pflegestufen ging oder darum, sich auf neue Einschränkungen einzustellen. Wie aber sonst, hätte er, hätte die Familie das Leben noch genießen können? Der Imperativ, der auf Kalenderblättern und in Ratgebern als Floskel daherkommt – Lebe jetzt! – das war die Formel, die für Uwe das gute Dasein bestimmte. Was er jetzt noch konnte, würde er morgen oder übermorgen nicht mehr können. Also Jetzt!
Viele Rentner sind froh und stolz auf die Reisen, die sie endlich unternehmen können. Uwe konnte sie noch unternehmen. Umso abenteuerlicher mussten sie sein. Skandinavien lässt sich gut im Rollstuhl bereisen – das treppenreiche Italien noch viel besser, weil man überall auf die Hilfe der freundlichen Italiener trifft. Inder schleppten ihn in Jerusalem in die Grabeskirche. Der Sessellift auf die Schneekoppe hielt unten zweimal an, einmal für ihn, einmal für den Rollstuhl, und oben nochmal. Ursula erinnert sich mit Grausen an den aufzugsfreien Bahnhof von Sofia; Uwe hatte einen Riesenspaß.
In Berlin ließ er sich zum Chor der Multiplen Sklerotiker chauffieren, wo er mangels Gesangsstimme monotone Bassgeräusche von sich gab. Regelmäßig beteiligte sich der Mann mit Rollstuhl und ohne Zukunft an der „Fridays-For-Future-Mahnwache.
Ludwig, sein Sohn, hatte einen Vater, der immer zu Hause war, der sich interessierte und half. Und dem der Sohn half – gern, und manchmal, selten auch nicht so gern. Er erinnert sich, wie Uwe ihn mal kurz hintereinander um irgendwelche Dinge bat, und wie es dann aus ihm rausbrach: „Jetzt sammel‘ doch mal deine Bedürfnisse!“ Gut möglich, dass er eine gewisse Zielstrebigkeit und Sachlichkeit im Angang von seinem Vater geerbt hat. Der gab ihm – in Erinnerung an seine alten Zeiten als Nerd – auch einen bemerkenswerten Rat. Ludwig verzweifelte an seiner Abschlussarbeit, da verkündete Uwe in altbewährter Trockenheit: „Wenn’s langweilig wird, sind wir auf dem richtigen Weg!“
Für Ludwig war es normal, einen Vater zu haben, der alles andere als normal war, so klein irgendwie in seinem Rollstuhl. Als Uwe gestorben war und bei der Trauerfeier lang gestreckt im Sarg lag, Deckel drauf, ganz üblich, kam seinem Sohn ein für die Situation eher unüblicher Gedanke in den Sinn: Jetzt ist er ganz normal.
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