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Wolfgang Müller

© privat

Nachruf auf Wolfgang Müller: Kein Held im Gefühlezeigen

Er war schon immer da, der einzige, der noch mit Kohlen heizte. Der Nachruf auf einen grummeligen Nachbarn

Stand:

Tagelang hatten sie nach dem alten Herrn Müller, ihrem grummeligen Nachbarn gesucht. Sie hatten die Krankenhäuser Berlins abgeklappert, überall waren sie weggeschickt worden.

Wer sie denn seien? Nur Nachbarn? Nicht verwandt? Ob sie wenigstens sein Geburtsdatum wüssten? Auch nicht? Nee, da können wir nicht weiterhelfen, Datenschutz, Sie wissen schon.

Irgendwie gelangten die Nachbarn an einen 21 Jahre alten Eintrag in dem Poesiealbum, das einem Mädchen gehörte, das früher in dem Haus gewohnt hatte. Mit ordentlicher Schrift hatte Herr Müller dort eingetragen, dass er 1,79 Meter groß und 77 Kilo schwer war, braune Haare und braune Auge hatte, gern auf einem Bauernhof spazieren ging, und dass „Die Kinder von Büllerbü“ sein Lieblingsfilm sei. Die Spalte mit der Frage nach seinem größten Wunsch ließ er frei. Egal, das Wichtigste war jetzt sein Geburtsdatum, das hatte er aufgeschrieben.

Da standen sie also in der Tür zu seinem Krankenzimmer. An das Staunen in seinem Gesicht können sie sich noch gut erinnern.

„Er hatte ja wirklich niemanden, und dann kamen wir plötzlich.“

„Ich glaube, er hat sich gefreut. Aber ein Held im Gefühlezeigen war er ja nicht.“

„Ich hatte ihn spontan lieb.“

„Ich nicht – er hat gleich wieder losgegrummelt.“

Zum Abschied sagte Herr Müller : Ich will nicht in ein Pflegeheim, ich will wieder nach Hause.

Doch wie sollte das gehen – mit Darmkrebs im Endstadium. Er hatte ja wirklich niemanden mehr, außer ihnen, den Nachbarn.

370 Euro Miete

Berlin-Moabit, Birkenstraße, ein grauer Altbau, erster Hinterhof, dritter Stock, drei Zimmer, 1981 war Herr Müller hier eingezogen. 40 Jahre später war er der einzige im Haus, der noch einen Kohleofen hatte, weil er jede Modernisierung abgelehnt hatte. Seine Miete betrug 370 Euro, viel höher war auch seine Rente nicht.

Im Haus gab es ein ständiges Ein- und Ausziehen. Nur Herr Müller war immer da. Meistens stand er im Hof und kümmerte sich um die Pflanzen. Überall hatte er Töpfe arrangiert, mal waren es drei, dann fünf, grüne Inseln in dem Grau des Moabiter Hinterhofs. Irgendwann tauchte diese Katze auf dem Hinterhof auf, sehr scheu, sie ließ sich von niemanden streicheln. Herr Müller fütterte sie, gewann ihr Zutrauen und durfte sie im Winter zu sich in die Wohnung holen, wenn es draußen allzu kalt wurde.

„Man wusste, man war zuhause, wenn man Herrn Müller sah. Er kannte alle. Alle kannten ihn.“

„Einmal habe ich einen Topf nach rechts verrückt. Da gab es mächtig Ärger. Das habe ich mich nie wieder getraut.“

„Ich machte mir Sorgen, weil Herr Müller stark abgenommen hatte. Ich bot ihm an, dass er bei uns essen könne. Das hat ihm gar nicht gepasst. Ich solle mal lieber bei mir selber schauen, ich hätte wohl einiges zu viel drauf.“

Natürlich hat Herr Müller nicht nur gemeckert. Mit dem einen trank er einen Kaffee, von der anderen ließ er sich zum Kuchen einladen. Er erzählte, dass er gerne am Rüdesheimer Platz spazieren ging, oder sich auf eine Bank in der Domäne Dahlem setzte, und dass er die Natur liebte. Und egal, wie lange er schon in Berlin war, noch immer rollte er sein fränkisches R.

Ein Meisterschüler

In Kulmbach war er aufgewachsen mit Bruder und Mutter, über seinen Vater ist nichts bekannt. Unbeaufsichtigt tobten die Jungs durch die Natur. Früh begann Wolfgang zu zeichnen, Pflanzen, Vögel, das Haus am Hang mit dem Fluss davor. Später ließ er sich lange Haare und einen dichten Bart wachsen, kaufte sich ein BMW-Motorrad und wollte weg aus der kleinen Stadt. Er machte eine Ausbildung als Schaufensterdekorateur, dann ging er nach Berlin an die HdK, studierte Design, wurde Meisterschüler – und brachte das Studium nicht zu Ende.

Seine Kunst hatte etwas von Graffiti, gesprühte Farbverläufe auf Leinwand, auf denen Worte standen: „Landfriedensbruch“, „Fenster zu“, „Kühlschrank“. Oder er fotografierte mit seiner Polaroid besonders hässliche Orte. Steinvorgärten, einsame Bäume am Wegesrand, Parkplätze – dafür fuhr er wochenlang durch die Bundesrepublik. Unermüdlich produzierte er Dinge, für die es keinen Kunstmarkt gab. Hatte er jemals etwas ausgestellt oder verkauft? Geld verdiente er als Nachtportier in einem Hotel, 30 oder 35 Jahre lang, drei oder viermal in der Woche, bis er zu alt wurde und das digitale Buchungssystem nicht mehr verstand.

Eine Nachbarin klingelte bei ihm mit einem Teller Kuchen. Er machte nicht auf, sie stellte den Teller vor die Tür. Ein, zwei Tage später wunderte sich der Nachbar von oben, dass der Kuchen immer noch dastand. Feuerwehr, Polizei, sie fanden ihn in der hintersten Ecke seiner Wohnung, zusammengerollt auf einer Matratze. Er lebte. Nie war er zum Arzt gegangen; die Schmerzen müssen unerträglich gewesen sein.

Er kam ins Krankenhaus, die Nachbarn suchten und fanden ihn, und jetzt wollte er zurück in seine Wohnung. „Lass uns doch ein Zimmer so herrichten, dass ein Pflegedienst kommen kann.“

Vier Tage brauchten sie dazu. Denn Herr Müller kümmerte sich nicht nur um Pflanzen, sondern auch um tausend Dinge, die ihm nützlich oder schön erschienen. Servietten mit Hasen und Vögeln drauf, Bücher über Blumen und Gärten, Kalender mit Naturmotiven, Stofftiere...

„Irgendwie war Herr Müller immer ein Kind aus Kulmbach geblieben, mit der Natur und den Tieren. Ob Berlin ihm so gutgetan hat?“

Sie sortierten aus, packten Kisten, machten Küche und Bad betretbar, kauften eine gebrauchte Waschmaschine, eine Miele, das war ihm wichtig. Als er die Wohnung betrat, die Waschmaschine sah, sank er auf den Boden und strich über sie.

Die Nachbarn kümmerten sich, organisierten einen Pflegedienst, besuchten Herrn Müller täglich. Auf einem Foto sitzt er in seinem Bett und strahlt in die Kamera, zufrieden. Ein halbes Jahr lang waren sie noch für ihn da, bis er Anfang November des letzten Jahres starb. Eins seiner Bilder hängt jetzt im Hausflur. Seine Blumen gießen die Nachbarn.

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