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„Negative Gefühle fordern zum Handeln auf“: Berliner Bürgerstiftung vermittelt Wissen zu Einsamkeit
Soziale Isolation als neues Thema für engagierte Bürgerinnen und Bürger? Bei einem Austausch erklären Experten die Gefährlichkeit von Einsamkeit – und haben einen Tipp für dunkle Wintertage.
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Ulrike Lüken versteht die Sprache der Natur, zu der sie auch Gefühle zählt. „Gefühle wie Angst oder Einsamkeit sind Signale, die wir interpretieren müssen.“ Wer einsam ist, dem sage dieses Gefühl, dass er „nicht mehr zum Rudel“ gehört. Das aber sei in Urzeiten überlebenswichtig gewesen.
Einsamkeit ist für die Professorin für Psychotherapie an der Humboldt-Universität (HU) also ein schrilles Alarmsignal. Bis heute ist sie ein dramatischer Hinweis darauf, dass man nicht in dem Maß sozial eingebunden ist, wie es dem Überleben zuträglich ist. Deshalb solle man keine Angst haben vor negativen Gefühlen: „Sie fordern uns zum Handeln auf.“
Einsamkeit kann ein medizinisches Problem werden
Mitglieder der Bürgerstiftung Berlin lauschen im historischen Hörsaal 10 der Humboldt-Universität aufmerksam den Ausführungen der Professorin im Rahmen der jährlichen Factory Lounge, diesmal organisiert von Kuratoriumsmitglied Verena Khadjavi-Gontard, die selbst klinische Psychologin ist. Offensichtlich ist hier ein Betätigungsfeld für engagierte Bürgerinnen und Bürger.
Wobei Einsamkeit an sich noch nicht schlecht sein muss. Erst wenn sie chronisch wird, kommen die Probleme, folgen Krankheiten wie Depressionen. Ulrike Lüken spricht von einem Teufelskreis, der durchbrochen werden muss. Um das zu erreichen, müsse zunächst untersucht werden, welche Barrieren zwischen den Einsamen und ihrem gesellschaftlichen Umfeld bestehen.
Ist man es wert, dass andere einen positiv wahrnehmen?
Meist stößt Ulrike Lüken auf drei Schemata, die zur Isolation führen können. Menschen, die zur Einsamkeit neigen, finden sich oft nicht interessant genug. Andere glauben, es nicht wert zu sein, zur Gruppe dazuzugehören. Wieder andere schließlich leiden unter einer chronischen Krankheit, für die sie sich schämen, zum Beispiel einer Angststörung oder einer Sucht.
Wer aber die Gruppe meidet, kann keine neuen Erfahrungen machen, die seine Einsamkeitsgefühle widerlegen. Deshalb bestehe, so die Professorin, eine mögliche Therapie darin, Verhaltensexperimente zu planen. Man würde Situationen gestalten, in denen der Patient überprüfen kann, ob er es wert ist, dabei zu sein.
Es gibt soziale und emotionale Einsamkeit, sagt die Expertin
Da kann es darum gehen, einen Lacher richtig zu interpretieren und nicht auf sich selbst zu beziehen. Vielleicht hat derjenige, der gelacht hat, sich nur über einen Witz amüsiert und wollte sich kein bisschen lustig machen über den Anwesenden mit dem geringen Selbstwertgefühl.
Lüken unterscheidet zwischen sozialer und emotionaler Einsamkeit. Von sozialer Einsamkeit wird gesprochen, wenn beispielsweise jemand plötzlich ins Krankenhaus muss und nicht weiß, wer ihm von zu Hause ein paar Sachen dorthin bringen kann. Von emotionaler Einsamkeit spricht man, wenn der Wunsch nach Nähe nicht erfüllt werden kann.

© Elisabeth Binder
Die digitale Welt, auch das hat Ulrike Lüken beobachtet, ist ein Brandbeschleuniger für die Einsamkeit. Je mehr Zeit jemand vor dem Computer-Screen verbringt, desto weniger Zeit bleibt für das Beisammensein mit anderen Menschen und desto schwerer fällt es am Ende, soziale Fähigkeiten zu erlernen.
Einsamkeit ist ein schleichendes Gift, das sich vor allem in Großstädten ausbreitet. Auch Stressforscher Mazda Adli spricht bei der Factory Lounge. Er führt die 17 Millionen Single-Haushalte in Berlin an, die ein Hinweis auf wachsende Vereinsamung sein könnten. Adli stellt außerdem fest, dass sichtbare Einsamkeit als soziales Versagen stigmatisiert werde.
Die Berliner Bürgerstiftung kümmert sich bereits um Einsamkeit bei älteren Menschen. Das Problem ist aber weitaus umfassender. Besonders junge Erwachsene am Anfang des Berufslebens sind betroffen. Aber auch Jugendliche, denen Treffpunkte fehlen, an denen sie sich wohlfühlen, leiden.
Ulrike Lüken glaubt, dass eine App für die sozialen Beziehungen helfen könnte, die ähnlich funktioniert, wie die Schrittzähler. Analog zu den 10.000 täglich zu erreichenden Schritten könnte die App einen dazu motivieren, etwa die Oma anzurufen oder einer alten Schulfreundin eine freundliche Mail zu schicken. Daraus kann sogar eine Win-Win-Situation entstehen, weil Adressat und Absender in Kontakt kommen.
„Schicken Sie noch heute einem Menschen, der es nicht erwartet, eine Nachricht“, gibt auch Adli dem Publikum als Hausaufgabe mit auf den Weg. Und Ulrike Lüken rät zu einem kleinen, aber wirkmächtigen Schritt, besonders im Berliner Winter: „Einfach mal nett sein und lächeln.“
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