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Berlin: Neuer Verdacht gegen Pflegeheim

Interne E-Mail gibt Hinweise auf systematischen Arzneimissbrauch. Träger kündigt Untersuchung an

Der Verdacht gegen das Pflegeheim des Berliner Lazaruswerks, Patienten ruhig gestellt zu haben, um eine höhere Pflegestufe zu erreichen, verstärkte sich am Wochenende. Eine interne E-Mail vom August 2006 legt die Vermutung nahe, dass zumindest bis zu diesem Zeitpunkt Heimbewohnern vor einer Begutachtung zur Bestimmung der Pflegestufe Arzneien verabreicht wurden. In der E-Mail zwischen zwei Mitarbeitern des Heimes heißt es: „Ich frage mich (...), warum wollen Sie die Ärzte darüber informieren, dass Sie nicht mehr dieses Medikament verabreichen, wenn der MDK (Medizinische Dienst der Krankenkassen) ins Haus kommt, für eine PS (Pflegestufe) bzw. die Höhergruppierung zu forcieren.“

Der Vorstand des Betreibers, des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerkes (EJF) Lazarus gAG, kündigte angesichts dieser neuen Hinweise einen internen Untersuchungsausschuss an. Der Ausschuss werde ab Montag die Vorgänge des vergangenen Jahres noch einmal genau prüfen, die zu den Vorwürfen geführt haben, sagte ein Sprecher. Von der jetzt aufgetauchten E-Mail habe der Vorstand allerdings keine Kenntnis.

Der Untersuchungsausschuss ist ein überraschender Schritt, hatte der Vorstand doch mehrfach betont, dass es sich bei den Vorfällen in dem Weddinger Heim ganz sicher nur um einen Einzelfall gehandelt habe. Eine „überforderte Pflegekraft“ habe ein einziges Mal und ohne ärztliche Anweisung einer „aggressiven Heimbewohnerin“ ein beruhigendes Psychopharmakon verabreicht. Diese Mitarbeiterin sei daraufhin entlassen worden. Darüber hinaus räumte der Betreiber auch ein, dass die Berliner Heimaufsicht durch die Untersuchungen auf erhebliche Mängel gestoßen war und einen befristeten Aufnahmestopp gegen das Heim ausgesprochen hatte. Diese Maßnahme wurde Ende Januar vorfristig aufgehoben, weil der größte Teil der Beanstandungen beseitigt worden sei.

Immer wieder stoßen die Kontrolleure der Heimaufsicht auf Pflegemängel auch in anderen Berliner Einrichtungen – und das zum Teil durch Beschwerden verärgerter Bewohner oder Angehöriger. Während 2005 noch 87 Beschwerden bei der Heimaufsicht eingegangen sind, stieg die Zahl im vergangenen Jahr auf mehr als 150. In fast einem Drittel der Fälle sei eine unzureichende oder fehlerhafte Pflege bemängelt worden, sagt Michael Meyer, Leiter der Heimaufsicht. Außerdem gab es Beschwerden über zu wenig Fachpersonal. Und das würde dann auch noch vielfach „zu fachfremden Tätigkeiten“ eingesetzt, Gebäudereinigung zum Beispiel. Dadurch bleibe weniger Zeit für die Patienten.

Von Fällen massiver Vernachlässigung in Berliner Heimen berichtet die Beratungsstelle „Pflege in Not“. Bewohner einiger Einrichtungen seien nur dreimal am Tag gewindelt worden. In anderen hätten Betroffene nur kaltes Essen erhalten, sagt Sprecherin Gabriele Tammen-Parr. Der Deutsche Pflegerat, die Dachorganisation des Pflege- und Hebammenwesens, wies daraufhin, dass die Situation in Großstädten verbesserungswürdig sei. In Ballungszentren wie Berlin gebe es einen besonders hohen Anteil bedürfter Senioren.

Doch wie findet man ein gutes Heim? Man müsse sich ausgiebig über die Pflegequalität informieren, rät die Berliner Patientenbeauftragte Karin Stötzner. Ein gutes Heim informiere offen über die dort üblichen Standards. „Problematisch ist, dass die Ergebnisse der Prüfungen durch die Heimaufsicht nicht veröffentlicht werden“, sagt Stötzner.

Wichtig sei auch die Anzahl der Pfleger. Einem Patienten der höchsten Pflegestufe III stehe gesetzlich eine halbe Pflegekraft zu; in einem Heim mit zehn Pflegeplätzen zum Beispiel müssten also fünf Pfleger beschäftigt werden.

Kritik an der Personalsituation in den Heimen übte die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Die von den Kassen bezahlten Pflegesätze seien viel zu niedrig, um eine ausreichende Versorgung zu gewährleisten. Oft werde zu Lasten der Bewohner am Personal gespart. Die Aufsicht verfolge die Missstände nicht genügend. „Es wird zu wenig kontrolliert“, sagt Verdi-Experte Michael Musal. Nach Auskunft der Heimaufsicht sind weniger als 70 Prozent der 280 Berliner Pflegeheime im vergangenen Jahr überprüft worden.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Pflegeheimen in Berlin gemacht? Schreiben Sie uns unter dem Betreff „Pflegeheim“ an berlin@tagesspiegel.de

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