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Das Wandgemälde an der Rückseite der Reinbeckhallen, wo man Typen trifft, die man eher in Mitte vermuten würde, zeigt eine andere Seite des Ortsteils.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Oberschöneweide: Wo der Strom in Strömen floss

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf Nr. 66: Oberschöneweide.

Oberschöneweide war mal der größte Industriestandort Europas. Klingt unglaublich, steht aber mit genau diesen Worten auf einer Ortsteil-Infotafel neben dem Anlegesteg der BVG-Fähre, die von Plänterwald quer über die Spree nach Oberschöneweide tuckert (Fahrzeit zwei Minuten, Tarif Kurzstrecke). Ich blieb lange vor der Tafel stehen und ließ mir die Wörter auf der Zunge zergehen: größter... Industriestandort... Europas.

Mit dem Untergang der DDR kam der finale Kurzschluss

Gut, das ist ein Weilchen her. „Elektropolis“ wurde Berlin um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert genannt, als die Stadt im Bereich Elektroindustrie weltweit führte. Zu verdanken war es Unternehmerpionieren wie dem AEG-Gründer Emil Rathenau, die das Spreeufer im Südosten der Stadt mit gigantischen Drehstromwerken und Akkumulatorenfabriken zubauten. Ein paar Jahre lang war Oberschöneweide tatsächlich so etwas wie das Hauptstromaggregat der elektrisierten Welt.

Dann zogen zwei Weltkriege dem Ortsteil den Stecker, und als mit dem Untergang der DDR-Industrie der finale Kurzschluss kam, ging in den Klinkerhallen am Spreeufer wortwörtlich das Licht aus. Nie dürfte Oberschöneweides vielzitierter Spitzname angemessener gewesen sein als in den oberschweineöden Nachwendejahren.

Gut, auch das ist jetzt ein Weilchen her. Obwohl von den spektakulären Industriebauten am Spreeufer keiner mehr seinem ursprünglichen Zweck dient, fand ich die labyrinthischen Werkhöfe entlang der Wilhelminenhofstraße voller Leben vor. Unzählige Handwerksbetriebe haben sich in den weitläufigen Hallen niedergelassen, dazu Fitness-, Yoga-, Kampfsport- und Tattoo- Studios, Billardsalons, Supermärkte, Sozialberatungen, Kinos, nicht zuletzt ein Carrera-Bahn-Stammtisch, den ich gerne besucht hätte, wenn er denn gerade getagt hätte.

Könnte der Ortsteil bald wieder die Welt elektrisieren?

Und dann sind da noch die Künstler. Von ihnen erzählte mir in den Reinbeckhallen ein Galerist mit schwarzen Klamotten und weißer Haarmähne, ein silberzüngiger, um keine philosophische Phrase verlegener Typ, wie man ihn sonst eher in Mitte antrifft. Ob ich gehört habe, fragte er, dass sich nur ein paar Räume weiter gerade die berühmte Jorinde Voigt ein Atelier einrichte? Dass fast daneben Ólafur Elíasson ein Fabrikgebäude umbauen lasse? Dass schräg gegenüber demnächst Alicja Kwade einziehe, in den Industriebau, den vor ein paar Jahren der Rockstar Bryan Adams gekauft habe, um hier seinem Nebenberuf nachzugehen, der Fotografie? Dass überhaupt die ganze Gegend nur so brumme?

Ein paar Jahre lang war Oberschöneweide so etwas wie das Hauptstromaggregat der elektrisierten Welt. Die Industriearchitektur auf dem Gelände des Behrensbaus in der Ostendstraße erinnert an diese Zeiten.
Ein paar Jahre lang war Oberschöneweide so etwas wie das Hauptstromaggregat der elektrisierten Welt. Die Industriearchitektur auf dem Gelände des Behrensbaus in der Ostendstraße erinnert an diese Zeiten.

© Jens Mühling

Mir schwirrte der Kopf, während der Galerist mir in schwindelerregenden Superlativen den Aufstieg Oberschöneweides zum internationalen Top-Kunststandort ausmalte. Es klang, als werde der Ortsteil bald erneut die Welt elektrisieren, wie er es in einem anderen Jahrhundert schon einmal getan hatte.

Die Ernüchterung setzte erst ein, als ich bei „Dieter's Imbiss“ am Rathenauplatz weichgekochte Spiralnudeln mit Tomatensauce aß und den Verlierern der Deindustrialisierung zusah, die hier schon mittags mit ihren Bierflaschen die Parkbänke besetzen. Dieter, der Imbissmann, sah mich überrascht an, als ich ihn fragte, was Oberschöneweide so zu bieten habe. „Nüscht“, sagte er. „Nur Säufer.“

Fläche: 6,18 km² (Platz 63 von 96)

Einwohner: 21148 (Platz 52 von 96)

Durchschnittsalter: 38,7 (ganz Berlin: 42,7)

Lokalpromis: Emil Rathenau (AEG-Gründer), Bryan Adams (Künstler)

Gefühlte Mitte: Wilhelminenhofstraße

Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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