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Vorsicht Glatteis!: Ordnungsamt im Außendienst

Vor allem alte Menschen und Behinderte leiden unter den Schlitterbahnen auf den Gehwegen Die Kiezstreifen haben derzeit vor allem eine Aufgabe: räumfaule Hausbesitzer ausfindig zu machen.

Prüfend gleitet Thomas Mertens mit seinem Halbschuh über den zugeschneiten Gehweg an der Berliner Straße in Zehlendorf, stößt seinen Absatz in einen kleinen Eisbuckel und betrachtet kopfschüttelnd die auf rund einem Quadratmeter verteilten zehn Splittkörner. „Ganz klar, hier ist seit Tagen nichts gemacht worden, trotz des Neuschnees“, sagt der Außendienstleiter beim Ordnungsamt Steglitz-Zehlendorf und wendet sich an seinen Mitarbeiter Dirk Brandt: „Gib bitte direkt einen Auftrag zur Gefahrenbeseitigung an die BSR raus.“

Für die beiden Männer vom Ordnungsamt ist es ein Vormittag wie jeder andere in den letzten vier Wochen: Wenn sie morgens in das Koordinationsbüro ihrer Dienststelle kommen, warten dort oft schon zwanzig Beschwerden wegen unzureichend gestreuter Gehwege, Unterführungen, Bushaltestellen und Brücken auf sie. 497 berechtigte Beschwerdefälle im Bezirk sind es allein im Januar gewesen – 98 davon betrafen Flächen, für deren gefahrlose Benutzung die Stadt Berlin zuständig ist. „Erst prüfen wir die Glätte der beanstandeten Wege und versuchen dann, den Eigentümer oder den von ihm beauftragten Winterdienst zu erreichen. Wenn das nicht klappt, geben wir einen Auftrag an ein Sonderteam der BSR raus“, sagt Mertens. Das kann teuer werden: Bis zu 200 Euro zahlt der Besitzer eines kleinen Eigenheimes für die Räumung, dazu kommen 120 Euro Bußgeld. Ob die Verantwortung für die gefährlichen Wegstrecken einem Privateigentümer oder der Stadt obliegt, kümmert Mertens und seine rund 20 Mitarbeiter dabei nicht: „Ich habe mein Gesamtbudget von 5000 Euro für solche BSR-Einsätze zulasten der Stadt bereits um mehr als ein Vierfaches überschritten“, sagt der 41-Jährige.

Oft werden die Angestellten vom Ordnungsamt auf ihren Einsätzen von Passanten angesprochen, und häufig fallen Sätze wie „Endlich tut man hier mal was!“ Viele Anwohner weisen dann auf weitere Gefahrenzonen in der Nachbarschaft hin, so auch Annette Prokop: „Vor fünf Tagen bin ich da vorne in der Mörchinger Straße auf dem Eis ausgerutscht, seitdem habe ich Knieschmerzen“, sagt die 60-Jährige und führt Mertens in langsamen, humpelnden Schritten zu dem abschüssigen Wegabschnitt. Gerade älteren Menschen machen vereiste, matschige und buckelige Wege zu schaffen. Vor allem, wenn sie auf die Benutzung eines Gehwagens angewiesen sind, der häufig im Schnee stecken bleibt. Viele Senioren trauen sich daher gar nicht mehr aus dem Haus, so auch ein 83-jähriger ehrenamtlicher Mitarbeiter des Heimatvereins Steglitz: „Er hat mich vor einer Woche angerufen und erzählt, dass er auf dem Weg zu uns auf dem spiegelglatten Bürgersteig hingefallen sei und nun nicht mehr rausgehe“, sagt der Vereinsvorsitzende Wolfgang Schönebeck. Rund 25 ehrenamtliche Mitarbeiter helfen im Verein und dem dazugehörigen Steglitz-Museum in Lichterfelde. 20 davon sind Senioren, von denen viele nach wie vor mehrmals in der Woche kommen.

Zu den Unerschrockenen gehören auch der 75-jährige Helmut Glantz sowie Annette Beck, die 66-Jährige ist stark gehbehindert und benutzt einen Stock. „Trotzdem schaffe ich es immer irgendwie – wenn ich an der Bushaltestelle auch schon auf allen Vieren um einen hohen Schneeberg gekrochen bin“, sagt sie. Und Glantz fügt hinzu: „Es ist empörend, dass niemand in dieser Situation Verantwortung übernehmen will. Wir Alten fühlen uns allein gelassen.“

Noch eine andere Personengruppe leidet sehr unter dem langen Winter und den kaum passierbaren Wegen, deren Zustand immer schlechter zu werden scheint: Fast 400 000 Schwerbehinderte und darunter rund 30 000 Menschen mit einer außergewöhnlichen Gehbehinderung, die fast alle auf einen Rollstuhl angewiesen sind, leben in Berlin. Vielfach sind Behindertenparkplätze rücksichtslos zugeparkt – und darüberhinaus kommt selbst ein kräftiger Mann mit einem handbetriebenen Rollstuhl nicht mehr über die Buckelpisten, Schneehügel und Schlitterbahnen. „Seit mehr als vier Wochen bin ich zu Hause gefangen“, sagt Rainer Sanner, der allein in seiner Kreuzberger Wohnung lebt. Dem 52-Jährigen ist seine Selbstständigkeit wichtig: Alle Wege, ob zum Einkaufen, zum Arzt oder zur Bibliothek, hat Sanner stets allein mit seinem Rollstuhl bewältigt. Dass er das schon seit einem Monat nicht mehr kann, zermürbt ihn: „Der Verlust an Autonomie und die Vereinsamung sind psychisch schwer zu ertragen“, sagt er. In einem offenen Brief an die Senatsverwaltung in der Märzausgabe der Berliner Behindertenzeitung macht er auf die witterungsbedingten Probleme Schwerbehinderter – darunter rund 3500 blinde Menschen – aufmerksam. „Denn wir glauben, dass man bisher kaum einen Gedanken an uns verschwendet hat“, sagt Sanner, der versucht, seine „Einzelhaft“ durch Lesen und Telefonate zu ertragen. Noch nie hat er sich auf den Frühling so gefreut wie in diesem Jahr.

 Eva Kalwa

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