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Mit hoher Dunkelziffer. In Berlin gab es im Jahr 2018 rund 770 Anzeigen wegen schwerer Sexualdelikte.

© picture alliance / dpa

Schlechter Schutz für Opfer sexueller Gewalt: Berliner Richter blockieren Videovernehmung

Opfern sollen mehrfache Vernehmungen erspart bleiben. Rund 100 Anträge stellte die Staatsanwaltschaft im ersten halben Jahr. Genehmigt wurde rund ein Dutzend.

Die Berliner Staatsanwaltschaft würde bei der Aufklärung von Sexualdelikten gerne deutlich öfter von Videovernehmungen erwachsener Opferzeugen Gebrauch machen. Mehr als 100 Anträge haben die Ankläger im ersten halben Jahr der neuen Regelung gestellt – rund 90 Prozent wurden aber von den Ermittlungsrichtern abgewiesen.

„Die Norm ist sinnvoll und sollte angewendet werden“, sagte Mona Lorenz, Sprecherin der Generalstaatsanwaltschaft.

Mit der zum 13. Dezember 2019 eingeführten Neuregelung des Paragraf 58a der Strafprozessordnung „muss“ die Vernehmung von Opfern sexueller Gewalt „nach Würdigung der dafür jeweils maßgeblichen Umstände“ aufgezeichnet werden und als richterliche Vernehmung erfolgen.

Diese Videoaufzeichnungen sollen später im Prozess anstelle der Zeugenaussage verwendet werden, um Betroffenen eine erneute Vernehmung zu ersparen.

„Wir haben auf diese Norm gewartet, stehen in den Startlöchern“, heißt es bei der Staatsanwaltschaft. Die Regelung sei wichtig, um im Strafverfahren Opfer effektiv zu schützen und Retraumatisierungen durch Mehrfachbefragungen zu vermeiden.

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Wie berichtet, gab es nach Angaben des Kammergerichts seit Jahresbeginn gerade mal rund ein Dutzend Vernehmungen erwachsener Opferzeugen. „Grundsätzlich ist diese Regelung zu Beweissicherungszwecken zu begrüßen“, sagte Lisa Jani, Sprecherin der Berliner Strafgerichte.

Sechs Ermittlungsrichter sind in Moabit für die Vernehmung die erwachsenen Opferzeugen und Beschuldigten zuständig. Nach Janis Angaben sei der Videoeinsatz aber nicht in allen Fällen „besonders verfahrensökonomisch“, etwa wenn die Geschädigte bereits von der Polizei vernommen wurde und die Sache anklagereif sei. Für einige Geschädigte könne auch eine Aufzeichnung mit Kamera unangenehmer sein als eine persönliche Vernehmung im Prozess.

Knappe Ressource. Eine mobile Videoausrüstung steht den sechs Ermittlungsrichtern auf Standort Moabit zur Verfügung.
Knappe Ressource. Eine mobile Videoausrüstung steht den sechs Ermittlungsrichtern auf Standort Moabit zur Verfügung.

© IMAGO

In der Praxis hat dies zur Folge, dass die Ermittlungsrichter bislang die meisten Anträge der Staatsanwaltschaft ablehnen. Den Verdacht, dass die Gründe für die Ablehnungen eher vorgeschoben sein könnten, will Mona Lorenz nicht kommentieren, sagt aber: „Nach hiesigem Kenntnisstand gibt es bei den Strafgerichten noch keine zusätzlichen Räume mit entsprechender Videoübertragungstechnik.“

Die Vernehmung muss verschriftlicht werden

Zuständig für die Ausstattung sind die Gerichte. Derzeit müssen die Richter in Moabit mit einer mobilen Anlage auskommen, wenn sie Beschuldigte oder erwachsene Zeugen vernehmen wollen. Wenn einer der Prozessbeteiligten es, wie üblich, beantragt, muss eine Schreibkraft die gesamte Vernehmung verschriftlichen. Für eine Stunde Video werden sechs Stunden Schreibarbeit veranschlagt.

Dass manche Richter sich bei ihrer Arbeit nicht filmen lassen wollen, weist Lisa Jani zurück. „Von den Richtern, die damit befasst sind, sind derartige Vorbehalte nicht bekannt.“ Derzeit werde eine Ausschreibung vorbereitet, um alle Ermittlungsrichterzimmer in Moabit mit Videoanlagen auszustatten.

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Da die Zahl der Vernehmungen perspektivisch steigen werde, beobachtete man sehr genau, ob die Zahl der Richter aufgestockt werden müsse.

In Berlin gab es im Jahr 2018 rund 770 Anzeigen wegen schwerer Sexualdelikte (Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und sexueller Übergriff im besonders schweren Fall).

Im Namen der Opfer. Roland Weber fordert seit Jahren, dass Videovernehmungen zur Regel werden.
Im Namen der Opfer. Roland Weber fordert seit Jahren, dass Videovernehmungen zur Regel werden.

© Doris Spiekermann-Klaas

Die Staatsanwaltschaft will die Praxis der Ermittlungsrichter nicht hinnehmen. Gegen einen Großteil der abgelehnten Bescheide sind die Ankläger beim Landgericht in Beschwerde gegangen.

Der Opferbeauftragte sagt: Eine Besserung ist nicht in Sicht

Auch Berlins Opferbeauftragter Roland Weber hatte die mangelnde Umsetzung der neuen Regel scharf kritisiert. „Wenn der Gesetzgeber die Videovernehmung vorsieht , dann muss er auch Mittel bereitstellen, dass sie umgesetzt werden kann.“

In der Praxis fehlten den Ländern neben der technischen Ausstattung vor allem das Personal, also Ermittlungsrichter und Schreibkräfte. So bleibe die Videovernehmung die absolute Ausnahme, sagte Weber. „Und eine Besserung ist nicht in Sicht.“

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