
© Kitty Kleist-Heinrich TSP
Rotierende Schulferien gegen den Platzmangel: Berliner Integrationsbeauftragte kritisieren Wartelisten für geflüchtete Kinder
Katarina Niewiedzial und alle ihre Bezirkskollegen warnen vor Konsequenzen fehlender Schulplätze und Lehrkräfte. Sie plädieren für neue Lösungen – und einen Bildungsgipfel.
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Berlins Integrationsbeauftragte Katarina Niewiedzial und die Integrationsbeauftragten der Bezirke schlagen in einem gemeinsamen Brief an Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) vor, aufgrund des akuten Platzmangels an Schulen rotierende Ferienzeiten in Berlin einzuführen. Niewiedzial und ihre Kollegen verweisen auf den desolaten Zustand, wonach aktuell zwischen 1600 und 2500 Kinder und Jugendliche in Berlin auf den bezirklichen Wartelisten für einen Schulplatz stehen.
Sie rufen zu einem interdisziplinären Bildungsgipfel auf und fordern eine Vielzahl an Maßnahmen, um gleichberechtigte Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen der Stadt zu ermöglichen. Ziel ist es, insbesondere die Situation für neu zugewanderte Kinder an den Berliner Schulen zu verbessern. Das Schreiben, das von Niewiedzial und den Sprechern der Landesarbeitsgemeinschaft der Bezirksbeauftragten für Partizipation und Integration Julia Stadtfeld und Thomas Bryant unterzeichnet ist, liegt dem Tagesspiegel exklusiv vor.
Vor dem Hintergrund fehlender Schulplätze und Lehrkräfte plädieren die Beauftragten für eine Debatte über Unterrichtsangebote am Wochenende, die Ausweitung von digitalen Unterrichtsangeboten sowie die schnelle Einbindung von Lehrkräften aus dem Ausland. Rotierende Ferien innerhalb Berlins könnten zudem eine bessere Raumnutzung ermöglichen, schreiben sie. Das bedeutet konkret, dass in einem Bezirk, der Ferien hat, freie Schulgebäude für Kinder aus einem anderen Bezirk genutzt werden könnten. Somit würden nicht alle Schulgebäude zeitgleich sechs Wochen ungenutzt sein.
Zwar erkennen die Integrationsbeauftragten an, dass der Senat 2022 7000 zusätzliche Schulplätze geschaffen sowie neue Lehrkräfte eingestellt habe. Sie verweisen aber in ihrem Brief auf die „Dringlichkeit der aktuellen Situation an den Berliner Schulen aus integrationspolitischer Sicht“. Zwar seien alle Schulformen von dem bestehenden Mangel betroffen. Doch er führe „in den Willkommensklassen zu ungleich drastischeren Zuständen und langfristig negativen Auswirkungen für die neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen“.
Enorme Herausforderung für das Bildungssystem
Im vergangenen Jahr sind Zehntausende Geflüchtete in Berlin angekommen, darunter auch viele schulpflichtige Kinder und Jugendliche. Ende vergangenen Jahres sprach Bildungssenatorin Busse von etwa 7000 Geflüchteten, die beschult werden müssten. Inzwischen dürfte die Zahl weiter gewachsen sein, da wöchentlich neue Geflüchtete aus der Ukraine sowie anderen Regionen in Berlin ankommen. Im vergangenen Jahr sind nach Angaben des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten 14.704 Asylsuchende in Berlin aufgenommen worden. Hinzu kamen mindestens 85.000 ukrainische Geflüchtete, die in Berlin Schutz suchten. Insgesamt kamen damit so viele Schutzsuchende in die Hauptstadt wie seit der großen Fluchtbewegung 2015 nicht mehr.
Auch für das Bildungssystem stellen diese Zahlen eine enorme Herausforderung dar. Erst kürzlich hat eine Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration wieder festgestellt, dass Kinder mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich oft im Bildungssystem benachteiligt sind.
Wartezeiten auf einen Schulplatz für mehrere Tausend Kinder sind nicht zu akzeptieren.
Berlins Integrationsbeauftragte
Wie viele Kinder genau auf einen Schulplatz warten, ist schwer zu ermitteln. Niewiedzial und ihre Kollegen aus den Bezirken gehen von aktuell zwischen 1600 und 2500 Kindern und Jugendlichen aus, die in den Bezirken auf Wartelisten für einen Schulplatz stehen. „Wartezeiten auf einen Schulplatz für mehrere tausend Kinder sind nicht zu akzeptieren“, schreiben sie. Eigentlich gibt es in Deutschland eine Schulpflicht. Weil die Schulen in Berlin aber fast voll ausgelastet sind, vergehen teils Monate, bis Kinder und Jugendliche einen Platz finden.

© Joanna Szproch / Joanna Szproch
Bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten dauere es zudem Monate, bis sie überhaupt auf einer Warteliste registriert würden, schreiben die Integrationsbeauftragten. Da die Zahlen ungenau seien, fordern sie von der Bildungsverwaltung eine „abgestimmte Analyse“ zwischen Bezirken und Landesebene.
Verstoß gegen das Schulgesetz?
Die Beauftragten werfen der Bildungsverwaltung zudem vor, gegen das Schulgesetz zu verstoßen. Seit ein paar Monaten erhielten Geflüchtete ab 16 Jahren anscheinend weder einen Platz in einer Willkommensklasse noch an allgemeinbildenden Schulen, schreiben sie. Dies widerspräche dem Schulgesetz, in dem die Schulpflicht nicht am Alter, sondern an den Jahren des tatsächlichen Schulbesuchs festgemacht werde.
Schule allein kann die bestehenden Herausforderungen nicht meistern.
Berlins Integrationsbeauftrage
Mit Blick auf diese Missstände und vor dem Hintergrund eines sich in den kommenden Jahren ausweitenden Lehrermangels fordern die Integrationsbeauftragten, eine breite gesellschaftliche Debatte zum Bildungssystem der Zukunft – „ohne Tabus und Denkblockaden“.
Dabei machen sie eine Reihe von Vorschlägen, etwa zu rotierenden Ferien, um eine bessere Raumnutzung zu ermöglichen. Die Integrationsbeauftragten plädieren auch für eine Debatte zur Abschaffung des Berliner Neutralitätsgesetzes, sodass in Deutschland ausgebildete Lehrerinnen mit Kopftuch unterrichten können.
Um Ideen für ein Schulkonzept zu entwickeln, „das auf eine Migrationsgesellschaft ausgerichtet ist“, fordern die Verfasser des Brief ans Senatorin Busse einen Bildungsgipfel mit allen relevanten Akteuren aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. „Schule allein kann die bestehenden Herausforderungen nicht meistern“, schreiben sie.
Schulprojekt für ukrainische Kinder, die auf regulären Platz warten
Ähnlich sieht das auch Berlins früherer Grüne-Bildungsstaatssekretär Hans-Jürgen Kuhn, der sich seit vielen Jahren im Verein „Schöneberg hilft“ engagiert. Der Verein versucht Lücken des Berliner Bildungssystems zu schließen. Er hat sechs ukrainische Lehrkräfte auf Honorarbasis angestellt, die Kinder unterrichten, die derzeit auf den Wartelisten für einen regulären Schulplatz stehen. So werden montags bis freitags 25 bis 30 Kinder und Jugendliche überwiegend in ihrer Muttersprache unterrichtet.
„Wir bieten ihnen damit eine Tagesstruktur“, sagt Kuhn. Er fordert vom Senat, freien Trägern die finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen, um nach diesem Modell weitere Kinder zu beschulen. Denn inzwischen stößt auch das Schöneberger Projekt an Grenzen: „Auch wir führen schon eine kleine Warteliste“, sagt Kuhn.
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