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Pater Mertes hält Festrede: Das Canisius-Kolleg in Berlin feiert 100-jähriges Bestehen
Das katholische Canisius-Kolleg ist eine der bekanntesten Privatschulen in Berlin. Bei der Feierstunde erinnert der ehemalige Rektor Pater Klaus Mertes auch an den Missbrauchsskandal. Wir dokumentieren Auszüge seiner Rede.
Stand:
Eine der bekanntesten Berliner Privatschulen, das katholische Canisius-Kolleg, feiert am Sonnabend sein 100-jähriges Bestehen. Schlagzeilen machte die vom Jesuiten-Orden geführte Schule 2010, als der Skandal um sexuellen Missbrauch an der Schule publik wurde. An der Aufarbeitung hatte der damalige Rektor, Pater Klaus Mertes, wesentlichen Anteil.
Aktuell besuchen 929 Kinder und Jugendliche die Schule an der Tiergartenstraße in Mitte, davon 829 das Gymnasium, 100 weitere die Integrierte Sekundarschule mit dem Schwerpunkt Flucht und Migration. Insgesamt sind nach Angaben der Schule 60 Nationalitäten mit 41 Muttersprachen unter dem Dach der Privatschule versammelt.
Klaus Mertes leitete das Canisius-Kolleg von 2000 bis 2011. Zum Festakt der 1925 vom Jesuitenorden gegründeten Schule wurden am Sonnabend auch der Berliner Bürgermeister und Finanzsenator Stefan Evers (CDU) und Kardinal Michael Czerny aus Rom erwartet.
Wir dokumentieren Auszüge aus der Festrede von Pater Klaus Mertes:

© Mike Wolff TSP
Was die Schule aber bei aller Diversität vereint, das ist der Anspruch, ein Ort zu sein, an dem „die Frage nach Gott offen gehalten wird.“ So lautet einer der vier Grundsätze der ignatianischen Pädagogik: Unsere Schulen „sollen Schulen sein, an denen die Frage nach Gott offen gehalten wird.“
Die Frage nach Gott ist eben nicht nur die Frage eines bestimmten konfessionellen Milieus. Sie ist eine Frage von allgemeiner Bedeutung, eine Frage der Allgemeinbildung, auch für öffentliche Schulen, auch in Berlin. Man kann Qualitätsstandards in der Auseinandersetzung mit der Frage nach Gott auch unterschreiten, egal, wie man diese Frage am Ende für sich persönlich beantwortet.
2010 – die Erschütterung durch den Missbrauchsskandal
Es war von Schmierereien die Rede. Klerikale Napola. Und so weiter. Aber nicht jede Schmiererei von Schülern ist Ausdruck von Diffamierung oder Zerstörungsabsicht. Es gibt Schmierereien, die ein Hilferuf sind. Es gibt Spitznamen von Lehrern, hinter denen sich ein Grauen verbirgt. Es gibt Beschwerden von Schülerinnen und Schülern gegen Patres, Lehrer oder andere Autoritätspersonen, die nicht ernst genommen werden, weil sie die erwachsenen Adressaten in schwierige Konflikte mit Kollegen hineinführen, wenn sie ernst genommen werden; oder weil sie das Selbstbild einer ganzen Institution infrage stellen könnten, wenn sie stimmen.
Das macht Angst und führt zu Aggression. Victim blaming. Schnell richtet sich die Gewalt gegen die Beschwerde führenden Jugendlichen, statt ihnen mit einer Vertrauensvorgabe entgegenzukommen. Kindern zu vertrauen, erfordert eben manchmal auch Mut.
Es erfordert aber vor allem großen Mut, Jahre später als Betroffene Gewalterfahrungen in pädagogischen Beziehungen anzusprechen. Diesen Mut brachten ehemalige Schüler des Canisius-Kollegs im Januar 2010 auf. Sie lösten damit einen Prozess aus, der weit über die Grenzen des Canisius-Kollegs hinauswirkte, kirchlich wie gesellschaftlich. Man kann heute rückblickend sagen, dass 2010 kirchlich und gesellschaftspolitisch ein Wendejahr war. Es wird mit dem Namen des Canisius-Kollegs verbunden bleiben. Ein tief lagerndes Schweigen wurde durchbrochen.
Das ausschlaggebende Gespräch fand am 14.1.2010 im Rektorenbüro des Kollegs statt. Matthias Katsch hat es zehn Jahre später in einem Buch beschrieben. Es trägt den Titel „Damit es aufhört“ und ist einem 2014 zu früh verstorbenen Schulfreund gewidmet, sowie „allen, die es nicht geschafft haben.“ Worüber zu reden war und bleibt – das klingt in der Widmung an –, das sind Verbrechen an Kindern und Jugendlichen mit lebensverdunkelnden und lebensbedrohlichen Folgen für die Betroffenen; Verbrechen, die schon damals als solche erkennbar gewesen wären, wenn man sie erkannt hätte, beziehungsweise die als solche erkennbar waren, als man Kenntnis von ihnen erlangte.
Das ist es ja, was den zweiten Aspekt des Missbrauchs ausmacht, den eigentlich institutionellen Aspekt: Das Versagen der Institution, die anvertrauten Jugendlichen vor den Tätern zu schützen und den Tätern disziplinarisch angemessen entgegenzutreten – also sie zum Beispiel gerade nicht in Therapien zu schicken, um ihnen anschließend, nach einer Unbedenklichkeitserklärung des Therapeuten, wieder den Weg in die Jugendarbeit oder in eine andere Schule zu bahnen. Jedenfalls: Kinder und Jugendliche wurden durch sexualisierte Gewalt in einen Überlebenskampf hineingestoßen.
„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“, schrieb Sören Kierkegaard. Rückblickend auf 100 Jahre Canisius-Kolleg lässt sich sagen: Wie in einem Brennglas verweben sich darin kirchliche, kulturelle und politische Ereignisse. Schulgeschichte ist Zeitgeschichte. Womit eine Schule sich zu beschäftigen hat, wird nicht nur vom Lehrplan gesteuert. Das ist kein Argument gegen Lehrpläne. Aber: Mit den Kindern und Jugendlichen kommt die jeweilige Zeit in der Schule an, oft anders als geplant.
Heute sind das Themen wie: Krieg in Europa, Kriege im Nahen und Mittleren Osten, Krise der liberalen Demokratien und des ethischen Universalismus, künstliche Intelligenz, neue Süchte, Chancen und Probleme der Globalisierung, Corona und die Folgen. Vor all diesen Themen steht das Kolleg heute.
Es kommt hinzu: Es geht nicht einfach nur um Themen, sondern vor allem: um Prägungen und Erfahrungen. Kinder und Jugendliche bringen ihre jeweiligen Erfahrungen mit. Diese können in der Schule kontrovers aufeinanderprallen. Die Trigger-Punkte liegen nicht bei allen an derselben Stelle. Das betrifft auch das Kollegium.
Kriege und Krisen machen vor Klassenzimmern nicht halt
Es gibt am Ende keinen Krieg, der nicht irgendwann auch im Klassenzimmer und im Kollegium ankommt. Ich werde den Tag nicht vergessen, an dem die USA auf Befehl von George W. Bush im Irak einmarschierten. Der Sohn eines Lehrers war bei den einmarschierenden Soldaten mit dabei; einige Schüler kamen aus irakstämmigen Familien; sie bangten um ihre Angehörigen. Wie kann man in einer solchen Situation eine Schulversammlung und allen irgendwie gerecht werden? Kann man das überhaupt? Und wie kann und muss das Kolleg heute mit vergleichbaren Diversitäten und Verstrickungen umgehen?
Es gibt keine Kontroverse, die nicht irgendwann die Schule erreicht. Je verunsicherter eine Gesellschaft über das ist, was sie zusammenhält, um so mehr kommt die Verunsicherung auch in der Schule an. Vorgestanzte Antworten helfen da nicht weiter, schon gar nicht bei Jugendlichen. Aber gerade das ist die große Chance der Schule. Sie ist der Lernort schlechthin für die ganze Gesellschaft. Lehren ist nicht Belehren, sondern ständiges Lernen auf beiden Seiten, ganz unterschiedlich, in sehr unterschiedlichen Rollen, aber immer hinhörend, den Anderen hörend, in sich hineinhörend.
Ignatius hat einmal auf die Frage, warum Jesuiten Schule machen, geantwortet: „Jesuiten lernen am besten, wenn sie andere unterrichten.“ Ich übertrage das auf die ganze Gesellschaft. Schule setzt einerseits einen gesellschaftlichen Auftrag um. Sie ist andererseits aber auch Lernort für die gesamte Gesellschaft. Es sind die Kinder und Jugendlichen, die die Themen mitbringen. Sie tun es manchmal genau so, wie es Hans Christian Andersen im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ beschreibt.
An 100 Jahren Canisius-Kolleg lässt sich das deutlich machen. Es ist eine große Geschichte, eine Geschichte von Freuden und Schmerzen, von Aufbrüchen, Brüchen und Neuanfängen; für alle, die daran Teil hatten, eine prägende Geschichte, auf jeweils unterschiedliche, meist nicht auf einen Begriff zu bringende Weise. Das Jubiläum ist die Gelegenheit, einander davon zu erzählen. In diesem Sinne: Herzlichen Glückwunsch dem Canisius-Kolleg zum 100-jährigen Jubiläum.
(Bearbeitung: Tsp/wie/sve/svo)
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