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Berlin: Seine Welt ist bunter

Der Dienstag ist eisblau für ihn und das Jahr ein Oval – der Berliner Michael Riehle ist Synästhetiker. Sein Hirn ist anders organisiert, und das verleiht ihm besondere Fähigkeiten

Als die Nichten von Michael Riehle beim Abendbrot zu streiten anfingen, ob der Pullover dunkelblau ist oder graublau, wollte er sie ablenken und sagte: „Sagt mir doch mal, welche Farbe die Fünf hat.“ Da guckten sie ihn an und auch die anderen am Tisch hörten mit dem Essen auf, und dann sagte Anna, die Jüngere: „Die Fünf ist grün.“

Da hat der Onkel gelacht, und die anderen haben gestaunt. Wie, die Fünf hat eine Farbe?

Michael Riehle, 40, aus Berlin-Prenzlauer Berg und seine achtjährige Nichte sind Synästhetiker. Das sind Menschen, die Sinneseindrücke verknüpfen. Sie können Farben hören oder Töne sehen. Zahlen und Buchstaben sind für sie grün, rot, gelb oder dunkelrotbraun. Bei manchen haben Zeit und Musik Formen, ein Riesling schmeckt ihnen blau und ein roter Apfel nach C-Dur.

Wer was und in welcher Intensität verbindet, ist individuell. Aber wer sagen würde, die Betroffenen litten an einer Krankheit, der hätte sie gleich am Hals, denn die Synästhesie ist den meisten, die sie haben, sehr lieb – was die Forscher verstehen können. Sie nennen Synästhesie einen „Bonus“. Verglichen mit Synästhetikern sind die Normal-Wahrnehmenden die „Behinderten“. Außerdem haben Untersuchungen ergeben, dass Synästhetiker psychisch stabiler sind. „Sie haben weniger Angst und eine geringere Kränkbarkeit“, sagt Markus Zedler, Synästhesie-Experte der Medizinischen Hochschule Hannover. Man nimmt an, dass sie vernetzter denken.

Zedler vergleicht die Unterschiede zwischen Synästhetiker- und Nicht-Synästhetikerhirnen mit alten und neuen Computern: „Wenn auf einem alten Computer Word läuft, schließt man am besten alle anderen Anwendungen, sonst stürzt er ab. Bei neuen Computern kann man dagegen mehrere Programme gleichzeitig laufen lassen.“ So machen es auch Synästhetikerhirne. Kein Wunder, dass kaum einer der Betroffenen den Verlust der Gabe riskieren möchte. Unlängst haben die hannoverschen Forscher einen Versuch britischer Forscher vorgestellt, die im Dezember 2006 mit Magnetstößen auf Synästhetikerhirne einwirkten, um die Synästhesie vorübergehend zu unterbrechen. Als sie danach im „Synästhesie-Treffpunkt“ der Hochschule fragten, wer an einem solchen Versuch teilnehmen würde, hat sich niemand gemeldet. „Die hatten alle Angst, dass ihre Synästhesie nachher weg ist“, sagt Zedler.

Auch Michael Riehle würde das nie riskieren. Er sieht Zeit: Wenn er die Woche vor seinem geistigen Auge hat, ist jeder Tag ein Block: etwa zwei Meter hoch und eine Schrittlänge breit. Montag ist ockerbraun, der Termin mit dem Tagesspiegel um 16 Uhr ist mit einem Punkt markiert. Riehle sagt: „Wie merkt man sich sonst was, wenn nicht so?“

Dienstag ist helleisblau, Mittwoch weiß mit schwacher violetter Lasur, Donnerstag dunkelblau, Freitag auch, aber intensiver, Sonnabend ist dunkelgrau, fast schwarz, Sonntag rot.

Es seien keine Farbtöne, die er schon mal in der Natur gesehen habe, sagt er. Längere Zeiträume wie Wochen und Monate nimmt er als bunte Linie war, die sich auf einen Horizont zuschlängelt. Jahre bilden einen leicht ovalen Kreis, mit dem Januar unten rechts, und dann geht’s gegen den Uhrzeigersinn. Er könne sich durch die Doppelwahrnehmung als Zahl und Farbe auch weit zurückliegende Daten ziemlich gut merken, sagt Riehle. Und das macht die Synästhesie für die Forschung interessant: „Wir hoffen, dass wir etwas über das Bewusstsein lernen können“, sagt Markus Zedler. Woher es beispielsweise kommt, dass man eine Gestalt als Einheit wahrnimmt und nicht als Summe ihrer Teile. Denn Synästhesie ist ja die Kombination von Wahrnehmungen.

Dass die Synästhesie für die Wissenschaft entdeckt wurde, liegt auch an dem US-amerikanischen Neuropsychologen Richard Cytowic, der Anfang der 80er Jahre auf einer Dinnerparty eingeladen war und den Gastgeber in der Küche über den Töpfen murmeln hörte, das Hühnchen in Sauce habe noch zu wenig Spitzen. Cytowic wurde neugierig. Bis dieses Phänomen von der Wissenschaft ernst genommen wurde, dauerte es aber noch mal gut 15 Jahre. Forscher verkabelten die Köpfe von Synästhetikern, verabreichten ihnen einen radioaktiv markierten Stoff und schlossen sie an einen Positronen-Emissions- Tomografen an, der den Blutfluss in Hirnregionen misst: je mehr Blutfluss, desto mehr Aktivität. Andere Nachweise wurden im Kernspintomografen geführt. Beide Methoden ergaben, dass in Synästhetikergehirnen auch jene Regionen aktiv waren, die nicht durch einen Sinnesreiz angesprochen waren. Dass also, wenn ein Ton erklang, neben dem Hör- auch das Sehzentrum „ansprang“.

So weit der Nachweis, dass es Synästhesie wirklich gibt. Aber eine Erklärung dafür, wie sie funktioniert, ist das noch nicht. An der arbeiten die Forscher in Europa und den USA. Simon Baron-Cohen und John Harrison von der Cambridge Universität beispielsweise untersuchen die Theorie, dass jeder Mensch, wenn er auf die Welt kommt, zunächst Synästhetiker ist, dass also jedes Neugeborenenhirn Wahrnehmungen koppelt. Aber schon in den ersten vier Monaten würden diese Verbindungen im Normalfall wieder gekappt.

Richard Cytowic, der Pionier, hat eine andere Erklärung parat: Seiner Meinung nach werden die Wahrnehmungen unterschiedlicher Sinnesnerven an einem dritten Ort im Gehirn, dem limbischen System, verknüpft. Das ist ein Areal, das Organe, das vegetative Nervensystem und Emotionen kontrolliert. Dieser Ansicht neigt auch Markus Zedler zu. Dazu passe auch eine ganz neue Theorie, die Synästhesie als das Fehlen von Hemmnissen erklärt: Von den Millionen Eindrücken, die auf das Gehirn einprasseln, werden so viele weggefiltert, dass im Normalfall die Reize, die fürs Ohr sind, nur im Hörzentrum des Gehirns ankommen, die Reize fürs Auge nur im Sehzentrum und so weiter. Bei Synästhetikern könnten diese Barrieren kleiner sein, so dass Ohrenreize auch ins Sehzentrum ausstrahlen.

Michael Riehle hat von Synästhesie lange nichts gewusst. Was er wusste, war, dass Fragen à la „Welche Frage hat der Sonntag bei euch?“ ihm nur Stirnrunzeln einbrachten. Und als er als Schüler vom Lehrer aufgetragen bekam, sein Matheheft mit einem roten Schutzumschlag einzubinden, war das falsch. Mathematik war doch blau! Bis heute weiß Riehle, dass er sich damals geärgert hat. Aber die paar Verwirrungen im Alltag verleiden ihm die Synästhesie nicht. „Wenn das jetzt aufhören würde, wäre es, als ob ich nicht mehr sehen könnte“, sagt er. „Eine Katastrophe.“

Auf die Synästhesie kam er durch einen Fernsehbeitrag. Dort hat er auch erfahren, dass das Phänomen seit 300 Jahren bekannt ist, dass es Goethe oder Kandinsky nachgesagt wird, dass es im Verhältnis 8:1 bei Frauen und Männern vorkommt und vermutlich über das X-Chromosom vererbt wird. Und dass es etwa jeder 300. hat. Als klar war, dass die Nichte dazugehört, fragte er auch seine Mutter, ob ihre Mutter oder die Mutter des Vaters so etwas gekannt hätten: Farben hören, Zahlen sehen. Da sagte die Mutter: „Ach, du meinst dieses lange Band, dass sich zum Horizont schlängelt?“ Das war das erste Mal, dass die beiden darüber sprachen. Im Sommer vergangenen Jahres.

Mehr Infos im Internet: www.synaesthesie.net und www.sensequence.de. Kontakt zum Synästhetiker-Café in Hannover: 0511/532-39 76.

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