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Ein Teddybär auf dem Boden. In Beratungsstellen können Kinder, Jugendliche und Eltern Hilfe finden.

© David Ebener/dpa

Sexueller Missbrauch bei Jungen: Denn die Täter wissen, was sie tun

Sexueller Missbrauch bei Jungen wird heute öfter gemeldet als früher. Wenn er erkannt wird. Ein Workshop-Besuch.

Ein Fahrer zeigt dem interessierten Jungen noch gern nach dem Dienst die ganzen tollen Autos oder Züge – und dann sein Geschlechtsteil. Die erwachsene Vertrauensperson zwingt Kinder, vor ihm zu urinieren, und diese sind danach geschockt. Der Mann mit Schlüsselrolle auf der Balkanroute lässt sich von Jungen befriedigen, erst dann geht es weiter in Richtung Deutschland. Im Heim verschafft sich ein vernachlässigter Jugendlicher Machtgefühle, indem er Rangschwächere erst körperlich ausnutzt und dann erpresst: Wenn Du was verrätst, passiert was, und ich erzähle dann allen, dass Du selber Spaß am Sex hattest! Oder so: Jener Vater wollte es eigentlich nicht, hatte nie an sowas gedacht, aber dann, der Alkohol, es war ja nur ein einziges Mal.

Fallbeispiele, wie sie so oder so ähnlich passieren. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder, auch gegen Jungen, hat viele Gesichter. Manchmal kommt sie ans Tageslicht, auch als Ausnahmefall – wie gerade im Fall der Hellersdorfer Grundschule, bei der zehn-, elfjährige Kinder einen Gleichaltrigen missbraucht haben sollen. Wohl vermutlich, um etwas selbst Erlebtes, oder etwas, wobei sie selbst mal als Opfer Zeuge waren, nachzuspielen.

Mehr Fälle werden bekannt

Nach Angaben der Fachleute vom Projekt „Berliner Jungs – Hilfen für Jungen bei sexueller Gewalt“ wurden im vergangenen Jahr in Deutschland 11 547 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch beim Bundeskriminalamt aktenkundig, darunter sind in 3399 Fällen Jungen betroffen. 505 Jungs waren jünger als sechs Jahre alt. Tatverdächtig waren insgesamt 8510 Männer und 371 Frauen. In Berlin ist durchschnittlich jeder vierte Junge schon mal sexuell intendiert angesprochen worden (mehr als 50 000 Kinder und Jugendliche), Tendenz durch die Digitalmedien steigend. Bei jedem zwölften fand körperlicher Missbrauch statt (16 000 Jungen). Die überwiegende Mehrzahl der Fälle ereignet sich in herkömmlichem Umfeld. Es würden mehr Fälle bekannt, weil das Thema nicht mehr tabuisiert sei.

Bei Mädchen findet der Missbrauch doppelt so oft wie bei Jungen im Kontext der Familie statt. Bei Jungen fast dreimal so oft wie bei Mädchen im Zusammenhang mit einer Institution. Doch viele Jugendclubbesucher, Vereinsnachwuchssportler, Freizeitreisenteilnehmer, Schlüsselkinder, Nachbarsfreundebesucher wagen nie den Schritt, einer vertrauten Person, die oft nicht Vater oder Mutter ist, etwas anzuvertrauen. Die Dunkelziffer ist hoch. Warum das Erzählen so schwer ist? Das lässt das Beraterteam des Projektes „Berliner Jungs“ in der vergangenen Woche die Teilnehmerinnen der Fortbildung „Sexuelle Gewalt an Jungen erkennen und handeln“ im Rollenspiel nachempfinden. Also: Bitte die Augen schließen und an ein eigenes sexuelles Erlebnis denken. „Öffnen Sie die Augen wieder. Und stellen Sie sich vor, jeder im Raum weiß jetzt, an was sie dachten.“

Ein unangenehmes Gefühl, wie selbst ausgestellt, auf dem Präsentierteller.

„Und jetzt stellen Sie sich vor, Menschen um sie herum bewerten das, haken nach, und Sie müssen der Polizei und vor Gericht alles noch einmal haarklein schildern.“ Wie bloßgestellt sich erst ein Kind oder Jugendlicher fühlen muss! Und beim Test ging es ja noch nicht einmal um Missbrauch.

Jungen trauen sich selten, sich zu offenbaren, weil sie danach als schwächlich und unmännlich gemobbt werden: Täter drohen: „Wenn Du was sagst, sage ich allen, dass Du schwul bist!“. Bei Opfern mit Migrationshintergrund schwinge oft die Angst der Familie mit, der Junge könnte „schwul gemacht worden sein“, er wäre nicht mehr für eine Heirat geeignet.

Nicht jeder Täter ist pädophil

Es gebe keinen typischen Tätertypen, oft sind es noch nicht mal pädosexuell veranlagte Männer: 60 Prozent der Täter geben an, einer Versuchung erlegen zu sein, eine Ersatz- oder Übersprungshandlung vollzogen zu haben. Untersuchungen zufolge hat jeder 1000. Mann pädophile Neigungen.

Das Bild des bösen unbekannten Mannes im Park trifft laut Experten des Hilfevereins „Hilfe-für-Jungs“ eher nicht zu. Die Erfahrung zeige, dass Männer sich geschickt etwa über ein Lob des modernen Handys des Jungen, die Anfrage, ob man mal zusammen etwa das beliebte Spiel „Fortnite“ zocken wolle und den anschließenden Nummerntausch langsam als Vertrauter ins Leben einschleichen. Manchmal würden Wohnungen angemietet, als Jugendtreff, und unter Dutzenden jungen Gästen dann zwei, drei ausgewählt, die besonders zugänglich und zugleich verschlossen wirken. Täter seien oft Meister im Netzwerken, um sich unangreifbar und unverzichtbar zu machen. Sie manipulieren Kinder und Erwachsene, involvieren viele in ihre Strategie.

Manchmal ist es dann gerade der Kollege, der beliebte Extra-Wochenendtrips anbietet oder nachmittags noch tolle Extra-Angebote für die Jugendlichen macht in Räumlichkeiten, für die nicht jeder einen Schlüssel hat. Andere Kollegen sind dann froh darüber, dass ihnen Arbeit erspart bleibt. Die Erfahrung zeige, dass Täter auch gern anderen Erwachsenen Kinder abnehmen, die froh über Entlastung sind. Manchmal seien die Täter so engagiert, dass andere schon wieder genervt von ihnen sind – was denen selbst wiederum mehr unbeachtetes Agieren ermöglicht. Oder sie nutzen – wie in der katholischen Kirche oder bei angesehenen Ehrenämtern, in denen Täter das Opfer in eine Abhängigenposition bringen – den guten Ruf als Deckmäntelchen.

Missbrauch und Ausbeutung auf der Flucht

Es gibt auch neue Trends. Nach den Erkenntnissen einer Unicef-Studie haben 77 Prozent aller Kinder, die durch Afrika über Italien nach Europa, also meist Deutschland kommen, Missbrauch, Ausbeutung durch Kinderarbeit oder menschenhandelähnliche Umstände erlitten. Schreckliche Erlebnisse müssen nicht als Traumata abgespeichert werden – können, wenn sie es sind, aber in Ruhephasen oder der Pubertät bei Flashbacks plötzlich aufbrechen.

In Berlin kommen derzeit jeden Monat allein vierzig bis achtzig unbegleitete geflüchtete Kinder und Jugendliche an, viele aus Afrika, die die Foltercamps der Menschenhändler in Libyen miterlebt haben müssen. Jugendliche bringen auch Erfahrungen sexuellen Kinderhandels aus Afghanistan mit. Hilfeexperten kritisieren, dass diese fragile Zielgruppe noch gar nicht ausreichend im Blick ist.

Tipps und Informationen

Wie kann man sexuellen Missbrauch erkennen, wer ist gefährdet und wie kann man helfen: Tipps zum Umgang und zur Prävention finden Sie hier.

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