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Nikolaus Schwentner und Sibylle Schmerbach sind aus West und Ost ihren Weg ins wiedervereinigte Berlin gegangen – mit dem Tagesspiegel.

© Montage: Tagesspiegel/Fotos: privat (2)

Sie sind so alt wie der Tagesspiegel: Zwei Leben in Berlin und zwei Wege zur Freiheit

Gemeinsam mit dem Tagesspiegel feiern auch Leserinnen und Leser ihren 80. Geburtstag. Nikolaus Schwentner und Sibylle Schmerbach kommen aus West und Ost – und fanden beide zu großen Adressen.

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Als Bayer aus Rosenheim erlebt Nikolaus Schwentner den Norden als große Umstellung, sprachlich wie emotional. Man ist zurückhaltender. Aber bald stellt er fest: Hat man erst mal Freunde, „dann sind das tiefe Freundschaften fürs Leben“. In München studiert er Physik, arbeitet danach in Hamburg und Kiel, ehe ihn ein Ruf an die Freie Universität Berlin ereilt. Mit 37 Jahren tritt Schwentner eine Professur in Experimentalphysik an.

Berlin war eine Stadt der Rentner und Wehrdienstverweigerer.

Nikolaus Schwentner, Tagesspiegel-Leser, über das West-Berlin der 1980er-Jahre

West-Berlin empfängt ihn kühl. Im Dezember 1982 kommt er mit Frau und zwei kleinen Söhnen in die verschneite Mauerstadt, um eine Wohnung zu suchen. „Die Stadt hatte die geniale Idee, die Straßen mit Asche zu bestreuen“, erinnert er sich an seine ersten Eindrücke in jenem Winter. Das Auto hat bald eine zentimeterdicke Dreckschicht. Und die Menschen? „Berlin war eine Stadt der Rentner und Wehrdienstverweigerer“, sagt Schwentner. Um Jüngere anzulocken, gibt es ein Begrüßungsgeld, der Umzug wird bezahlt. Begehrte Wohnungen liegen an S-Bahn-Strecken, „weil alle davon ausgingen, dass diese sowieso nicht in Betrieb sein würden“.

Es ist der Tagesspiegel, der dem Neu-Berliner die Stadt erschließt und ihn seitdem begleitet: Anfangs kauft er ihn einzeln, wird später Abonnent. Der Zufall will es, dass beide am selben Tag geboren wurden: Der Tagesspiegel und Nikolaus Schwentner werden am 27. September 2025 80 Jahre alt.

Im Wissenschaftsteil erfährt Schwentner oft schon von den neuesten Entwicklungen an den Hochschulen, bevor es von der Senatsverwaltung oder der Uni selbst bekannt gegeben wird. Dort ist der alte Muff noch immer nicht ganz verflogen. „Schwentner, bitte kommen Sie im Talar“ – so lädt ihn ein Dekan einmal zu einer Promotion in Helsinki ein und lässt nicht locker. Aber die wurden doch abgeschafft? Richtig, sagt man ihm an der FU. Doch das Trageverbot gelte nicht für eine Feier im Ausland. Also geht Schwentner zum Uni-Fundus, in dem die alten Talare liebevoll gepflegt werden. Er sucht sich einen aus und macht die Schau mit, nur dieses eine Mal.

© Tagesspiegel

Seinen Uni-Alltag erlebt Schwentner als „eine hervorragende Forschungszeit“. Und die Stadt selbst? Mit zwei kleinen Kindern macht er sich schon seine Gedanken. Wie kämen sie wieder raus, wenn die Lage zwischen Ost und West weiter eskalierte? Trotz dieser Sorgen ist die Inselstadt weniger einengend als gedacht. Die junge Familie genießt Grunewald und Wannsee. Für die Ferien gibt es die alte Heimat in Bayern als Rückzugsort. Und dann kommt, völlig unerwartet, die Wende – „was für ein Glücksfall!“

Drei Universitäten – eine zu viel?

Braucht eine wiedervereinigte Stadt drei Universitäten? Die Humboldt-Universität hat den großen Namen, die Technische Universität steht nicht zur Debatte. Doch die FU im Westen der Stadt, die ließe sich aufteilen und wegkürzen, lautet die verbreitete Befürchtung in Dahlem. Erst später folgt der Aufstieg in die internationale Spitze.

Sorgen gibt es auch in Mitte. Dort lehrt Sibylle Schmerbach an der Humboldt-Universität in der Spandauer Straße Wirtschaftspädagogik. Für die HU geht es um Leben oder Sterben, wie Schmerbach sagt. Schafft die Uni den Systemwechsel, schafft man ihn selbst? Die wirtschaftswissenschaftliche Fakultät gilt als systemnah, wird fast abgewickelt. Schließlich kann das verhindert werden. Sibylle Schmerbach arbeitet in der Gründungskommission für einen völlig neu zugeschnittenen Fachbereich. Sie baut im neu gegründeten Institut für Statistik und Ökonometrie eine neue „Wirtschafts- und Bevölkerungsstatistik“ auf.

In Freude über neue Freiheiten mischen sich in der Bevölkerung der untergehenden DDR Sorgen, den Systemwechsel beruflich nicht zu überstehen. Schmerbach schafft es, auch wenn sie vieles neu lernen muss. An der Uni wird es danach noch interessanter und bunter, denn die Bewerbungen kommen aus der ganzen Welt. Schon vor dem Mauerfall erlebt Schmerbach, die zehn Minuten Fußweg von ihrem Institut in Mitte entfernt lebt, Berlin als einen Ort mit mehr Freiheiten als anderswo in der DDR. „Besonders gegenüber dem Leben im Dorf, aus dem ich kam.“

Berlin ist einfach eine Stadt, in der man frei leben kann. Da kann jeder leben, wie er will, und keiner rümpft darüber die Nase.

Sibylle Schmerbach, Tagesspiegel-Leserin, über die Liberalität der Hauptstadt

Auch wenn sie aus unterschiedlichen Teilen Deutschlands stammen, sind Sibylle Schmerbach und Nikolaus Schwentner schon immer durch eine Gemeinsamkeit verbunden: Beide wurden wie der Tagesspiegel am 27. September 1945 geboren. Doch während die Zeitung, mit der sie heute ihr Leben teilen, aus der Hauptstadt kommt, sind sie auf dem Land aufgewachsen. „Ich kenne immer noch den Bauernhof, zu dem mein Vater gewandert ist, um eine Kanne Milch für mich zu besorgen“, erzählt Schwentner über seine Kindheit in Oberbayern.

Sibylle Schmerbach kam aus Thüringen nach Berlin und schlug am Ende einen akademischen Weg ein.

© privat

Schmerbach wird in Thüringen geboren, im Altenburger Land. Als ehemalige Großbauern bekommen ihre Eltern die Zwangskollektivierung in den 50er-Jahren hart zu spüren. „Das hat meine Sicht auf das Leben mitgeprägt“, sagt sie. Während der Grundschulzeit erlebt das Kind täglich die Schikanen dieses Zwangsprozesses mit: „die unerfüllbaren Ablieferungssolls, die Benachteiligungen gegenüber den Klein- und Neubauern, die Abwerbung der Arbeitskräfte und die soziale Ausgrenzung“.

Problem Westverwandtschaft

Ihre älteren Geschwister dürfen kein Abitur machen, doch als jüngstes Kind hat Sibylle Glück. An Grenzen stößt sie bei ihrem Studienwunsch: Außenhandel, das darf nicht sein – zu viele Verwandte im NSW, dem „Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“. Daraufhin lernt Schmerbach Handels- und Industriekauffrau. Von ihrer Dienststelle, der staatlichen Handelsorganisation HO, wird ihre Bewerbung für Wirtschaftspädagogik an der Humboldt-Uni voll unterstützt – und sie wird sofort angenommen. Schmerbach bleibt als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Zwischen Vorlesungen, Seminaren und Forschungsarbeit heiratet sie, gebiert drei Kinder und promoviert.

„Berlin ist einfach eine Stadt, in der man frei leben kann“, sagt Sibylle Schmerbach. „Da kann jeder leben, wie er will, und keiner rümpft darüber die Nase.“ Und jeden Tag hat man die Möglichkeit, etwas Interessantes zu machen. Dabei helfe ihr auch der Tagesspiegel. Die Zeitung sei bunter im besten Sinne geworden, auch wenn Schmerbach nicht jede Meinung teilt.

Zwei Leben, eine Zeitung. „Es ist ein Privileg, als Hochschullehrer immer von motivierten jungen Leuten umgeben zu sein“, blickt Nikolaus Schwentner zurück. Sein Rat für die jungen Leute heute: sich nicht verunsichern lassen. Immer habe sie Kontakt gesucht zu Menschen, von denen sie etwas lernen konnte, erzählt Schmerbach. Ihre Lehre: „Man sollte sich immer bewusst sein, dass man für sein Leben zuerst selbst verantwortlich ist.“

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