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Im Gillette-Werk in Tempelhof werden Mechatroniker und Mechatronikerinnen ausgebildet. Für dieses Jahr sind alle Stellen besetzt.

© Procter & Gamble

Azubis verzweifelt gesucht: So leidet der Berliner Ausbildungsmarkt unter der Coronakrise

Keine Schulbesuche, keine Ausbildungsmessen: Firmen und Azubis finden derzeit nur schwer zusammen, tausende Stellen sind offen. Es bleiben noch wenige Wochen.

So dringend wie in diesem Jahr wurden Auszubildende wohl selten gesucht: 7400 Stellen sind in Berlin laut Industrie- und Handelskammer (IHK) noch unbesetzt.

Die Corona-Pandemie hat die Lage erschwert: Viele Berufsbranchen sind darauf angewiesen, dass sie sich mit ihren Besonderheiten auf Ausbildungsmessen im Frühjahr präsentieren, um Schülerinnen und Schüler beziehungsweise Absolventinnen und Absolventen auf sich aufmerksam zu machen, sie zu begeistern und so Nachwuchs zu rekrutieren.

Wer weiß denn schon, was ein Eisenbahner im Betriebsdienst ist, eine Feinoptikerin – und was genau machen jetzt noch mal Mikrotechnologen?

Anja Nyilas, Personalchefin im Gillette-Werk des amerikanischen Konsumgüterkonzerns Procter & Gamble in Tempelhof kennt das Problem. Ebenso wie Ausbildungsleiter Daniel Schulz, der seit 27 Jahren in dem Werk mit 800 Beschäftigten tätig ist. Pro Jahr stellen sie zehn Auszubildende als Mechatroniker/innen ein. „Wir konnten alle unsere Stellen besetzen, aber durch Corona hat sich vieles länger hingezogen“, erzählt Schulz.

Ein triftiger Grund seien genau jene Ausbildungsmessen, auf denen sich das Unternehmen präsentiert und an Ständen zeigt, was das Berufsbild Mechatroniker beinhaltet. Da alle Messen coronabedingt abgesagt wurden, Schulbesuche und Werksführungen verboten waren, konnte der Konzern sich den jungen Menschen nicht präsentieren.

Schulz erzählt, dass das Unternehmen dann über Online-Jobbörsen gesucht habe und am Ende auch zehn geeignete Kandidaten fand. Alle Bewerber mussten einen schriftlichen Test absolvieren, in dem neben Mathematik und Physik – Wissen, das einfach unerlässlich ist für den Mechatroniker-Job – auch Allgemeinwissen und Deutschkenntnisse abgefragt wurden.

Gillette-Ausbildungsleiter Daniel Schulz.
Gillette-Ausbildungsleiter Daniel Schulz.

© Procter & Gamble

Acht Männer und zwei Frauen haben das Rennen gemacht. „Es liegt noch einiges an Arbeit vor uns, um genügend Frauen für die technischen Berufe zu begeistern“, erklärt die Personalchefin. Doch das klare Ziel sei ein Verhältnis von 50:50. Man arbeite daran, wie man künftig mehr junge Frauen in diese Richtung bringen kann.

Digitalisierung: Azubis machen älteres Personal fit

Insgesamt sei die Erfahrung der Personalerin und des Ausbildungsleiters, dass die jungen Menschen sehr viel Erfahrung im Umgang mit dem Digitalen mit sich bringen: Das Unternehmen nutze das, indem es Auszubildende einsetzt, um die älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter digital fit zu machen. Wenn einige Maschinen nun über iPads gesteuert würden, sei es Aufgabe der Jungen den nicht so damit bewanderten älteren Kollegen zu helfen.

Besonders gut komme bei den Auszubildenden im Gillette-Werk an, dass das Unternehmen etwas zusätzlich zum vorgegebenen Ausbildungsinhalt anbiete: „Wir haben eine ganze 3D-Druckabteilung“, sagt Schulz. Diese „additive Fertigung“, wie sich das Verfahren nennt, wird immer bedeutsamer in der Produktion. „Viele unserer Azubis haben sogar kleine 3D-Drucker zu Hause und drucken sich damit selbst Gegenstände aus“, schildert Nyilas.

So glimpflich wie das Gillette-Werk sind nicht alle Branchen in der Corona-Zeit davongekommen.

Branchen, die besonders hart betroffen sind von Corona, bauen eher Lehrstellen ab

Die Nachfrage nach Nachwuchs in Bauberufen, im Einzelhandel – vor allem Kaufleute für systemrelevante Lebensmittelmärkte oder Drogerien –, aber auch im Groß- und Außenhandel sowie bei Berufskraftfahrern sei weiterhin groß, sagt IHK-Sprecherin Claudia Engfeld. Doch anders sieht es in Branchen aus, die besonders hart von der Coronakrise betroffen sind: Das betrifft die Hotellerie und Gastronomie, wo derzeit eine Vielzahl von Betrieben um das Überleben kämpft.

Aber auch die Reiseunternehmen und der Veranstaltungsbereich sind durch den Ausfall der Messen und wegen der ausbleibenden Touristen in solchen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, dass es in der Folge dort weniger Ausbildungsplätze geben wird, teilweise wissen diese Unternehmen nicht, ob sie weiter bestehen können, hieß es bei der IHK. Es gebe zwar noch Ausbildungsplätze, aber etliche Betriebe fahren die Zahl der Stellen herunter – so oder so haben es junge Schulabgänger schwerer in diesem Jahr, in diesen Branchen einen Ausbildungsplatz zu finden.

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Auch bei der Kammer sieht man den Grund dafür, dass so viele Azubi-Stellen noch unbesetzt sind, darin, dass es coronabedingt für die Betriebe schwerer sei, die Jugendlichen zu erreichen. Keine Schulbesuche, keine Messen und Informationsveranstaltungen – zudem konnten die Mitarbeiter der Arbeitsagenturen wegen der hohen Zahl an Kurzarbeitergeldanträgen, die sie bearbeiten mussten, nicht so vermitteln wie sonst.

Was also tun? „Orientierung, Beratung und Vermittlung müssen so schnell wie möglich wieder hochgefahren werden“, sagt die IHK-Sprecherin.

Die Kammern haben die Kampagne #ZukunftAusbildung gestartet

Zusammen mit der Handwerkskammer hat die IHK die Kampagne #ZukunftAusbildung gestartet. Dazu gehören: Eine Beratungshotline (Telefon: 030/315 10-890), Webinare für Eltern, zudem haben die Präsidentinnen der beiden Kammern den Eltern aller Schulabgänger einen Informationsbrief zur Ausbildung mit den Angeboten geschrieben, er lag den Zeugnissen bei. Anfang August gibt es eine digitale Ausbildungsmesse, die Handwerkskammer fährt mit einem Karriere-Mobil die einzelnen Bezirke ab.

Anja Nyilas und Daniel Schulz von Gillette haben die Erfahrung gemacht, dass viele junge Leute verunsichert waren zu Beginn der Coronakrise. Das, was sonst an Berufsorientierung an den Schulen geboten wurde, fiel plötzlich aufgrund der Hygienebeschränkungen weg. Das habe man auch im Werk gespürt: „Als der Lockdown kam standen alle Azubis morgens in meinem Büro und fragten: Was sollen wir denn jetzt machen?“, schildert Schulz.

Gillette-Personalchefin Anja Nyilas.
Gillette-Personalchefin Anja Nyilas.

© Procter & Gamble

Gemeinsam mit Anja Nyilas hätten sie sofort ein Konzept entwickelt: Ein Teil der insgesamt 28 Auszubildenden habe Aufgaben, die sie zu Hause machen konnten, im Homeoffice erledigt. Der Rest wurde in Gruppen eingeteilt, es wurden die Abstandsregeln definiert, im ganzen Werk seien Desinfektionsmittel und Masken, auch für die Familienangehörigen der Beschäftigten, ausgeteilt worden. Alle Vorkehrungen hätten dazu beigetragen, dass der Betrieb relativ reibungslos weiterlaufen konnte und es zu keinem Corona-Ausbruch gekommen sei.

Gillette-Werk such jetzt schon Azubis fürs kommende Jahr

Daniel Schulz ist jetzt schon dabei, Auszubildende für das kommende Jahr zu suchen, sein Azubi-Team für diesen Jahrgang steht ja bereits. Obwohl das Ausbildungsjahr am 1. September beginnt, können Jugendliche aber auch nach dem offiziellen Start noch mit einer Lehre beginnen, auch mitten im September und im Oktober würden noch regelmäßig Kandidaten vermittelt, sagt die IHK-Sprecherin.

Das sei aber schon vor Corona so gewesen, und werde jetzt erst Recht so gehandhabt.

Was den betrieblichen Teil der Ausbildung angeht, sei das gar kein Problem, nur der mit dem schulischen wird es irgendwann schwierig, wenn die Jugendlichen ab einem bestimmten Zeitpunkt zu viel Lehrstoff verpasst haben. Deshalb mache sich die Kammer dafür stark, dass auch in den Berufsschulen in diesem sehr speziellen Jahr flexible Startmöglichkeiten von vorneherein mitgedacht und berücksichtigt werden.

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