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Berlin: Sophie Friedlaender

(Geb. 1905)||Sie lehrte die Kinder zu fliehen. Und die Kinder ahnten nichts davon.

Sie lehrte die Kinder zu fliehen. Und die Kinder ahnten nichts davon. Nachts brannten die Synagogen, am Tag darauf, dem 10. November 1938, rief die Lehrerschaft von Caputh ihre Schüler zusammen, über einhundert, und stürmte gemeinsam mit der Schützengilde das jüdische Kinderheim.

Gertrude Feiertag, die Leiterin, stellte sich ihnen entgegen und bat um freien Abzug für die Kinder. Die Situation war oft geübt worden, denn schon seit Jahren hatte es Beschimpfungen und Steinwürfe gegeben.

Der Mob wütete bis zum Abend in dem Gebäude, zerhackte Möbel, zerschmetterte Geige und Klavier, zerschlug, was zu zerschlagen war.

Die hundert Kinder des Heims konnten von ihren Lehrern nach einer dramatischen Flucht durch die Wälder heil nach Berlin gebracht werden. Mit Ausnahme des hübschesten Mädchens, das vergewaltigt wurde.

Das Kinderheim in Caputh, wenige Schritte vom Sommerhaus Albert Einsteins entfernt, ist idyllisch gelegen. Der Blick schweift über die Wälder, die Havel, den langgezogenen Ort.

Gertrude Feiertag hatte das Heim zunächst als Erholungsstätte für jüdische Kinder gegründet, später entwickelte es sich zu einer Schule für all jene, die vom deutschen Unterricht ausgeschlossen waren, als Schüler wie als Lehrer.

Sophie Friedlaender hatte 1933 ihr Staatsexamen abgelegt, mit Hitlers Machtantritt wurde es wertlos.

Sie kam nach Caputh und verfiel sofort dem Zauber des Ortes – auch wenn es ihr zunächst schwer fiel, sich an den Heimalltag zu gewöhnen. Sie unterrichtete die Kinder ihrer Klasse in allen Fächern, einschließlich Gärtnerei und Lebenskunde. Und abends lehrte sie ihre Kollegen Englisch.

Es waren viele unglückliche Kinder im Heim; Kinder, die mehr erlebt hatten, als Menschen zuzumuten war. Kinder, die bleiben durften, auch wenn die Zahlung der Eltern ausblieb. Und das erste, was es zu lindern galt, war meist das „Muttiweh“ – das erste Mal weg von der Mutter.

Unterrichtet wurde ohne festen Lehrplan, da es keine Lehrbücher gab. Dafür gab es ein klares Ziel: Zur Selbständigkeit erziehen.

Da sie von anderen als Juden beschimpft wurden, sollten die Kinder verstehen, was Jude zu sein, bedeutet, und dass es galt, darauf stolz zu sein. Da alle wussten, dass die Emigration bevorstand, war es auch ein Lernen für die Flucht und fürs Exil. Sprachen waren wichtig. Waldläufe, Schwimmunterricht. Jeder Ausflug war zugleich Evakuierungsübung – ohne dass die Kinder es wussten.

Nach der „Reichskristallnacht“ erlaubte Großbritannien 10 000 jüdischen Kindern die Einreise: Die Zeit der Kindertransporte.

Sophie Friedlaender war bereits vor Ort. Dank ihrer englischen Verwandten und Freunde hatte sie rechtzeitig ein Einreisevisum und eine Arbeitserlaubnis erhalten. Ihre vier Brüder erreichten nach vielen Irrwegen Palästina. Ihre Eltern blieben zurück. Sie wurden deportiert und starben im Konzentrationslager.

Sophie Friedlaender war sofort zur Stelle, als in England Empfangscamps für die Kinder eingerichtet wurden. Mit dabei war auch Hilde Jarecki, Kindergärtnerin, Hausmutter in Caputh und Gefährtin Sophies auf Lebenszeit. Die Stimmung gegenüber den Emigranten war anfangs freundlich, aber als der Krieg begann, änderte sich das schlagartig. Kinder, die zunächst herzlich in ihren Gastfamilien aufgenommen wurden, schoben nun viele als feindliche Ausländer ins Heim ab.

Während des Kriegs und viele Jahre danach leiteten Hilde und Sophie zwei solcher Heime für jüdische Waisen.

Kinder aus allen Ländern. Kinder, die wenig hatten mitnehmen können: ein Gedicht, mit Bleistift auf gefaltetem Toilettenpapier geschrieben. Kinder, die nicht ausgefragt werden wollten über das, was sie gesehen hatten. Kinder, deren Väter vor ihren Augen erschossen worden waren. Kinder, die ihre Sprache vergessen hatten, weil sie die Erinnerungen vergessen wollten. Kinder, deren Mütter weinend am Bahnhof zurückgeblieben waren. Kinder, deren Geschwister vergewaltigt worden waren. Kinder, die mit Alpträumen schlafwandelten. Kinder, die fragten: „Is it true that we killed Jesus“? Kinder, die einsam waren. Die aufseufzten, wenn sie einen Gute-Nacht- Kuss bekamen. Kinder, denen durch ein liebevoll eingelassenes Bad oft mehr geholfen war, als durch ein schabloniertes therapeutisches Verstehenwollen.

„Du kannst niemand besser machen, als durch das Gute, das in ihm ist.“ Sophies Erziehungskonzept war so einfach wie wirkungsvoll. Jeder konnte sich seine Aufgabe wählen, jeder konnte sicher sein, dass das, was er tat, der gemeinsamen Sache diente und von den anderen anerkannt wurde.

Kinder müssen verstehen, was sie tun, dann tun sie es gern. So lehrte Sophie sie beten in einer Sprache, die sie verstanden: „But we hope that no-a-days / People will let people live their ways.“

Im Ruhestand tat Sophie dann das, was sie schon zuvor an der Schule getan hatte, sie modellierte Köpfe. Nur tat sie das jetzt in Ton.

Sophie und Hilde lebten in Golders Green, dann in Mill Hill, Kleinstadtidyllen mitten in London. Und immer wieder bekamen sie Besuch von ehemaligen Schülerinnen aus London und aus Berlin.

Beide dachten nie an Rückkehr: „Deutschland war für uns leer geworden.“ Dennoch wurde England für Sophie nie zur Heimat, auch wenn sie nicht länger als „Hunnin“ galt: „No, you are not German, you are – just Sophie.”

Die Heimat, „unser verstorbenes Vaterland“, das war Caputh, ein Name, der für etwas steht, das hätte sein können, und das, dank Sophie, in den Herzen vieler lebt.

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