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Waldemar Schwienbacher

© Alexander Indra

Nachruf auf Waldemar Schwienbacher: Sozialarbeit am Zapfhahn

Er war Klagemauer, Seelentröster, immer da. Und wer es auf eigenen Füßen nicht mehr hinausschaffte aus dem Schiller’s, den ließ er auf dem Sofa schlafen.

Er selber, stets im T-Shirt, trank nicht während der Arbeit, nur ab und an mal einen süßen Likör, etwas aus der Kategorie Baileys. Er rauchte nie, doch seine Stimme klang nach Tabak und Whisky und einem ganzen Leben hinterm Tresen. Dabei war es so gar nicht gewesen.

Diese Stimme, heiser bis kaum noch vernehmbar, faszinierte jene, die seine Kneipe zum ersten Mal betraten: die Neuen, Jungen, Hippen, die immer mehr wurden, die gegen Ende einträchtig mit denen zusammensaßen, die wirkten, als hätten sie das Schiller’s über Jahrzehnte nicht verlassen.

Eine „soziale Einrichtung“ hat Waldemar Schwienbacher selbst seine Kneipe mal genannt. Für seine Stammgäste im Neuköllner Schillerkiez war sie ein zweites Wohnzimmer, vielleicht sogar ihr einziges. Ihn riefen sie „Waldi“. Er war für sie Klagemauer, Seelentröster, manchmal schon ab dem Vormittag, nach hinten raus sowieso: open end. Und wer es auf eigenen Füßen nicht mehr hinausschaffte aus dem Schiller’s, den ließ er auf einem Sofa schlafen. Einen Gast rauswerfen? Undenkbar. An guten Tagen fühlte es sich an, als seien sie alle eine Familie.

„Das ist hier Erlebnisgastronomie“

Waldemar hatte ein Händchen für die unterschiedlichsten Charaktere. Oder anders gesagt: Er ließ die Menschen einfach sein. Gab es Streit unter den Gästen, blieb er ruhig; konnte jemand nicht zahlen, schrieb Waldi an oder bat um eine kleine Gegenleistung, eine Reparatur, einen Botengang. Als ihm jemand mal eine Flasche Wein klaute, sah er weg, denn er kannte ja den Grund.

„Ich bin Psychologe“, sagte er manchmal, oder: „Das ist hier Erlebnisgastronomie.“ Es konnte chaotisch werden im Schiller’s. Für Waldi kein Grund, sich aufzuregen.

Als gelernter Maler kam er aus Südtirol nach Deutschland. Den kleinen Ort Lana, in dem er aufgewachsen war, verließ er im Streit für immer. Es ging wohl ums Erbe, um einen großen Hof, mehr sagte er dazu nicht. Auf der Suche nach Arbeit blieb er zuerst in München, bis dort die Mieten ins Unbezahlbare stiegen. Also weiter nach Berlin. Er fing an, Lebensmittelgeschäfte zu beliefern, fuhr Eis von Langnese aus, später Kaffee Hag. Auch ein Supermarkt in Tiergarten lag auf seiner Route, ein Familienbetrieb. Die Tochter Christina lud Waldemar, nie um einen Spruch verlegen, irgendwann auf ein Eis ein. „Warum nicht“, dachte sie, „bleibste nicht dran kleben.“ Blieb sie aber doch. Die beiden heirateten, Mitte der 80er wurde ihr erster Sohn geboren, vier Jahre später der zweite. Waldemar freute sich riesig, obschon er viel zu beschäftigt war, um Windeln zu wechseln.

Mit seiner Frau führte er ein Café am Olivaer Platz, Charlottenburg, richtig klassisch: Kaffee, Kuchen, Mittagstisch. Dann wurde die Miete zu teuer und sie wichen aus in ein Café in Moabit. Als das Haus dort saniert wurde, mussten sie raus.

Christina wurde in ihrem neuen Job in einer Bäckerei nicht glücklich. Da sagte Waldemar: „Weißte, wir suchen uns wieder was.“ Bei einem Spaziergang durch Neukölln kamen sie an einer Kneipe vorbei, Schillerpromenade Ecke Okerstraße. Da wurde ein neuer Pächter gesucht. Drinnen war es düster, aber das war nur eine Frage der Farbe. Vor der Tür gab es Platz, um Tische und Stühle rauszustellen. Im Sommer 2009 öffneten sie.

Ein starkes Argument: die Preise

Sie sollte den Laden führen, so der Plan. Waldemar arbeitete weiter als Lieferant. Das ging ein paar Jahre gut, bis ein Stammgast immer häufiger kam und schließlich mit Christina ging. Waldemar ertrug auch das, nach anfänglicher Beleidigung, mit stoischer Ruhe. Er hatte bereits so oft neu angefangen, nun also noch mal, diesmal hinterm Tresen.

Stück für Stück modernisierte er die Kneipe, vorsichtig, um die Alteingesessenen nicht zu verprellen. Offensiv genug, um jüngere Gäste anzulocken. Die wünschten sich Live-Musik, also ließ er Bands auftreten, es gab Lesungen und Ausstellungen. Der Laden war voll.

Die Preise waren sowieso ein starkes Argument fürs Schiller’s. Drei Euro für ein großes Bier, zwei für ein Gläschen Rotkäppchen, am teuersten: Whisky-Cola, 6,50. Das andere war die Sitzordnung. Sie erlaubte Grüppchenbildung. Die Redaktion der Stadtteilzeitung „Kiez und Kneipe“ hielt ihre Konferenzen im Eckchen neben dem Billardtisch ab. Waldemar achtete darauf, dass währenddessen niemand spielte. Für die Chefredakteurin, die sich ein wenig mehr Beleuchtung wünschte, hielt er Nachttischlampen bereit.

Rief einer aus der Runde seinen Namen, brachte Waldi schon das passende Getränk. Betraten Stammgäste das Lokal, stand ihr Bierweinschnaps oft schon bereit. Wie er das machte, darüber rätseln sie heute noch. Sah er die Leute schon im Anmarsch durchs Fenster? Merkte er sich die Uhrzeit, zu der sie üblicherweise kamen? Für die Kundenbindung war das optimal, aber vielleicht tat er es auch einfach aus Nettigkeit.

Mit seiner Ex-Frau blieb er immer in Kontakt. Er verlieh sein Auto, wenn es jemand brauchte, er verlieh Geld, obwohl er selber davon nicht viel hatte. Den Schäferhundmischlingswelpen Sarah nahm er auf, als ein Wurf so groß war, dass ihre Mutter sie nicht ernähren konnte.

Auffällig viele Freundschaften unterhielt Waldemar zu jungen Frauen. Für eine zugezogene unter ihnen war er der „Berliner Opa“, was ihm nicht so gut gefiel. Alt sein verband er mit Ruhestand und der war für ihn ausweislich eines Radiointerviews der „Warteraum zum Jenseits“. Dann doch statt Opa lieber Onkel sein. Als solcher brachte er ihr Billardspielen bei. Die Kugeln stieß Waldi so sanft, dass man kaum glaubte, sie könnten ihr Ziel erreichen. Taten sie aber. „Nicht so dolle“, war ein Ratschlag, den er am Billardtisch wiederholte. Eine Lektion fürs Leben.

Die Kündigung

Eigentlich war er eher wortkarg, wenn er jemanden aber näher kannte, konnte er ins Reden kommen. Wenn es dann politisch wurde, wunderte sich der ein oder andere: So weit rechts stand dieser Mann, dem hier, in seinem Alltag alle Menschen willkommen waren, jederzeit, nicht nur im Schiller’s. Manchmal ließ er jemanden in seiner Wohnung übernachten, dann schlief er in seiner Kneipe. „Alles geht, alles geht“, waren seine Worte, wann immer wer, geplant oder ungeplant, eine Feierlichkeit ins Schiller’s verlegte. Umräumen, eigene Musik, verhocken bis in die späten Morgenstunden. Alles ging.

Bis er im Sommer 2019 die Kündigung erhielt. Das Eckhaus, in dem sich die Kneipe befindet, war an die „Aramis Immobilien GmbH“ verkauft worden, sie gehört zum Imperium der Samwer-Brüder. Die Leute von „Kiez und Kneipe“ überredeten Waldi, sich einen Anwalt zu nehmen, Anwohner gründeten eine Initiative, sammelten Unterschriften. Das rührte den Wirt, der das gar nicht kannte, dass sich andere um ihn kümmerten, zu Tränen. Am Ende wurde der Vertrag für zwei Jahre verlängert, mit viel höherer Miete, aber immerhin.

Es klingt, als sei der Lockdown im Frühling die erste größere Pause in seinem Leben gewesen. Die Kneipe dicht, die Gäste ausgesperrt. Vielleicht hätte er so was schon früher mal gebraucht, da war doch was mit dem Herzen. Aber er war ja stur. Nahm er seine Medikamente? Die einen sagen Nein, die anderen: wollen wir mal hoffen.

Waldemar fand Beschäftigung am Stadtrand, wo er eine Laube renovierte und seinem jüngeren Sohn beim Hausbau half. Auch als das Schiller’s wieder öffnen durfte, verbrachte er oft die Vormittage dort. Am Freitag, 13. November, schufteten sie bis mittags, dann fuhr er nach Neukölln. Er wollte nur schnell seinen Laptop von einer Freundin holen, die über der Kneipe lebt. Im Treppenhaus blieb sein Herz stehen.

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