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„Spezifisches Berliner Biotop“: Warum Kandidaten links der Mitte kaum Erfahrung in der Privatwirtschaft haben
Dass Parlamente ein Spiegel der Gesellschaft sein sollen, hält der Frankfurter Politikwissenschaftler Jens Borchert für überholt. Dennoch sieht er gerade in Berlin eine problematische Tendenz.
Stand:
Herr Borchert, auf den Berliner Landeslisten von SPD und Grünen findet sich kaum ein Kandidat, der schon mal in der Privatwirtschaft gearbeitet hat. Es dominieren der öffentliche Dienst und Parteikarrieren. Ist das ein Problem?
Das ist in Berlin tatsächlich auffällig, gerade auch im Vergleich zu anderen Bundesländern. An sich sind solche Karrieren aber nicht problematisch. Hinter der Kritik stecken zwei Vorurteile: Zum einen, dass Tätigkeiten in der Verwaltung irgendwie Berufe zweiter Klasse sind, obwohl wir uns doch alle eine funktionierende Verwaltung wünschen. Zum anderen, dass Politik eigentlich kein richtiger Beruf ist. Das ist aber eine völlig unrealistische Erwartung.
Wir leben in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft. Es wäre schon sehr merkwürdig, wenn ein Feld wie die Politik davon ausgenommen wäre. Ich bin auch weiterhin der Meinung, dass das gut ist. Ein Beispiel: Im Umgang mit Lobbyisten ist es wichtig, politische Erfahrung zu haben und die Spielregeln der Politik zu kennen, weil man sonst schnell vereinnahmt wird.
Dennoch ist auch Ihnen das Ausmaß der rein politischen Karrieren auf den Berliner Listen von SPD, Grünen und Linken aufgefallen.
Ja, das Bedenkliche daran ist, dass hier kaum noch andere Erfahrungen in die politische Arbeit einfließen. Ein einzelner Politiker kann sich offensichtlich nicht in alle Lebensbereiche und -erfahrungen hineinversetzen. Aber es wäre hilfreich, wenn er oder sie mit Menschen aus verschiedenen Lebensbereichen in Berührung kommt und mit deren Problemen konfrontiert wird – und zwar nicht nur am Wahlstand, sondern alltäglich. Und da sehe ich insbesondere bei den jungen Berliner Nachwuchspolitikern die Entwicklung, dass sie eher in ihrer Blase gefangen sind. Das ist natürlich ein Problem.
Es gibt in Berlin keine echte Kommunalpolitik.
Jens Borchert, Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Warum ist das gerade in Berlin so extrem?
Zwei Gründe: Es gibt hier keine echte Kommunalpolitik. In anderen Gegenden der Republik sind die Leute eher kommunal verwurzelt, sitzen vielleicht erstmal im Stadtrat. Auch wenn sie selber nicht in der Privatwirtschaft arbeiten, haben sie dennoch viel mehr mit Menschen aus verschiedenen Bereichen zu tun. Das gibt es in Berlin in dem Maße nicht.
Und der zweite Grund?
Wir haben es mit einem spezifischen Berliner Biotop zu tun. Es gibt hier durch die gleichzeitige Präsenz von Berliner Politik und Bundespolitik sehr viele politische Einstiegsjobs, vor allem als Mitarbeiter von Abgeordneten. Schon als ich vor vielen Jahren mal eine Professur in Potsdam vertreten habe, ist mir aufgefallen, wie viele der Studierenden im Bundestag, im Abgeordnetenhaus oder für die Parteien selbst arbeiten. Einige haben davon heute ein Mandat.
Wenn es dieses spezifische Berliner Biotop gibt, warum trifft das nicht im gleichen Maße auf die Landeslisten von CDU und FDP zu?
Auch das hat etwas mit den vielfältigen politischen Einstiegsmöglichkeiten zu tun. Meiner Beobachtung nach kommt es gerade bei den Parteien links der Mitte gegenwärtig zu einem – notwendigen – Generationswechsel. Die Kandidaten sind daher im Durchschnitt vergleichsweise jung. Deswegen ist es naheliegend, dass diese Kandidaten vorwiegend die eben beschriebenen neueren Karrierewege in die Politik eingeschlagen haben. Zudem war es schon immer so, dass gerade Berlin junge, politisierte Menschen anzieht, die mehr dem linken Milieu zuzurechnen sind und sich auch eine politische Karriere vorstellen können.

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Wenn die Grünen jetzt auf die Idee kämen, dass ein, zwei Meister auf der Landesliste auch nicht schlecht wären: Gibt es Möglichkeiten für die Parteien, darauf aktiv hinzuwirken?
Ich stelle mal die Gegenfrage. Wenn jemand nach harter Arbeit seinen Meister geschafft hat und erfolgreich selbstständig ist: Warum sollte der oder die in die Politik gehen? Auch gesamtgesellschaftlich ist es nicht unbedingt wünschenswert, dass ein guter Handwerker seinen Job aufgibt, um Politik zu machen. Nochmal: Politik ist ein Beruf. Ansonsten gilt das alte Wort von Max Weber: Entscheidend ist die Abkömmlichkeit. Politik kann nur machen, wer es sich finanziell und zeitlich leisten kann.
Unabhängig von Berlin: Ist es ein Problem für die repräsentative Demokratie, wenn zahlreiche Perspektiven nicht im Parlament vertreten sind?
Es gibt die Vorstellung, der Bundestag sollte ein Spiegel der Gesellschaft sein. Das ist eine romantische Vorstellung, wird aber dem spezifischen Beruf des Politikers nicht gerecht. Dennoch stimmt es, dass bestimmte Perspektiven völlig fehlen, zum Beispiel die der Arbeiter. Parlamentarier, die eine Lehre gemacht haben und dann auch ein paar Jahre in ihrem Beruf gearbeitet haben, bevor sie etwa über die Gewerkschaft den Weg in die Politik gefunden haben, gibt es fast nicht mehr. Das ist aber schon lange so. Was positiv ist: Auch wenn immer noch Juristen dominieren, haben sich die Studienabschlüsse der Abgeordneten deutlich ausdifferenziert.
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