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Berlin: Star für einen Tag

Beim sozialistischen Gedenkmarsch hat die Nelke heute ihren großen Auftritt

Am Donnerstag wurden sie in Israel abgeschnitten, gestern Nacht standen sie im Flugzeug nach Berlin und heute liegen sie schon auf den Gräbern von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg: 500 rote Nelken der Sorte „King Arthur“, ökologisch korrekt angebaut, fair gehandelt und ohne Kinderarbeit aufgezogen. So lässt sich mit gutem Gewissen der 88. Todestag der sozialistischen Märtyrer begehen. Für einen Euro pro Stück gibt es die Nelken aus Israel im „Primula“-Blumenladen an der Frankfurter Allee unweit der „Gedenkstätte der Sozialisten“ auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde.

Die rote Nelke ist eigentlich ein Accessoir für Karnevalisten und Clowns. Man lacht über sie, findet sie entweder putzig oder ordinär, lässt sich von ihr kurz die Nase kitzeln und wirft sie dann weg. Die rote Nelke, ein Synonym für Geschmacksverirrung, egal, ob in Rosa, Pink, Orange oder Rot. An einem Tag im Jahr hat die Verfemte jedoch ihren großen Auftritt. Wenn Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg geehrt werden, versinken ihre Gedenksteine in einem Meer aus Nelken. Jeder Nostalgiesozialist steht geduldig Schlange an den Verkaufsständen und nimmt gleich ein halbes Dutzend.

Die genügsame Blume gibt es in der Arbeiterbewegung schon seit 1890. Eigentlich galt die rote Rose als Zeichen der Kommunisten, aber Nelken waren einfach billiger und passten besser ins Knopfloch. Bevor die Arbeiter sie entdeckten, war die rote Nelke auf vielen Marienbildern zu sehen, als Symbol der göttlichen Liebe.

In der DDR gab es die „1. Mai-Nelke“ aus der Kunstblumenfabrik Sebnitz, roter Synthetikstoff auf grün umwickeltem Draht. Am Internationalen Frauentag bekam die weibliche Belegschaft Nelken vom Chef. 1974 steckten die Portugiesen ihren Soldaten rote Nelken in die Gewehrläufe. Sie waren gerade von einer Diktatur befreit worden. Daraus wurde die „Nelkenrevolution“. Mit roter Nelke im Knopfloch betraten viele Adlige während der Französischen Revolution das Schafott, als Zeichen ihrer Unerschrockenheit.

Man sieht: die rote Nelke hat schon viele Umwälzungen begleitet. Eigentlich könnte sie künftig zur Blume der Globalisierung erklärt werden. Die große Mehrheit der Nelken kommt aus dem Ausland zu uns, aus Kolumbien, Kenia, Israel oder Holland. Oft von schlecht entlohnten Saisonarbeitern angebaut, dann in dunklen Flugzeugbäuchen nach Berlin verschleppt und hier von windigen Straßenhändlern mit sattem Gewinn an gutgläubige Sozialisten verkauft. Am Gedenktag für Rosa und Karl werden besonders die Vietnamesen aktiv. Statt Zigaretten verkaufen sie an jeder Ecke Nelken.

Natürlich illegal, schimpft Blumenhändler Harmut Oehlke, der einen kleinen Laden an der Zufahrtstraße zum Friedhof betreibt. Seine Nelken sind holländisch und kosten 70 Cent. Wenn die Demonstranten am Friedhof angekommen sind, können sie Nelken für 50 Cent kaufen und ärgern sich, weil sie am Bahnhof Lichtenberg, wo sie aus der S-Bahn gestiegen sind, doppelt soviel bezahlt haben. Das ist eben der entfesselte Kapitalismus. Nicht mal vor der heiligen Blume seiner Systemkonkurrenz macht er halt.

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