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Ukrainer über die Hauptstadt: „Lehrer in Berlin schreien die Kinder nicht an“
Sie kamen aus der Not heraus, und doch haben sich hier viele inzwischen einen Alltag aufgebaut: Ukrainerinnen und Ukrainer berichten, wie sie Berlin erleben.
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Am liebsten wäre es ihnen gewesen, sie hätten niemals nach Berlin kommen müssen. Dennoch haben viele Ukrainerinnen und Ukrainer in der deutschen Hauptstadt inzwischen Routinen entwickelt, sie kennen Pfade und Gepflogenheiten. Fünf von ihnen berichten von großen Überraschungen und kleinen Schocks.
Ksenia Lanchak, Schriftstellerin und Karrierecoach: „Akzeptanz schützt Frauen vor Experimenten mit ihrem Aussehen“

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Als ich in der Stadt ankam, fand ich mich sofort in einer Telegram-Gruppe namens "Beauty in Berlin" wieder. Jetzt gehe ich zur Maniküre und anderen Behandlungen, die ukrainische Flüchtlinge anbieten. Unweigerlich habe ich die ukrainischen Schönheitsgewohnheiten mit den deutschen verglichen.
Die Deutschen scheren sich nicht allzu sehr um die Meinung anderer, wir Ukrainerinnen hingegen wollen gemocht werden. Dabei geht es nicht nur um Verhalten oder Taten, sondern eben auch um das Aussehen. Viele Frauen wünschen sich Lippen, Wimpern und Haare, als wären sie Berühmtheiten. Wir sind ständig mit uns selbst unzufrieden und machen "Upgrades".
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Die Deutschen haben eine einfachere Einstellung dazu. Ich denke, das liegt daran, dass viele Frauen schon in ihrer Kindheit ein gutes Selbstwertgefühl vermittelt bekommen. Sie fühlen sich als Individuen, wollen niemandem etwas beweisen.
Es gibt eine starke feministische Bewegung in Deutschland, besonders in Berlin. Das bedeutet nicht nur, für die Rechte der Frauen einzutreten, sondern für die Rechte aller Menschen, für die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Ich denke, es ist die Akzeptanz, die die deutschen Frauen vor Experimenten mit ihrem Aussehen schützt.
Mich entspannt das. In Berlin habe ich keine Komplexe und erwarte zu keinem Zeitpunkt, dass man mich für mein Aussehen kritisiert. Es interessiert niemanden, im positiven Sinne des Wortes. Es herrscht gegenseitiger Respekt.
Anastasia Volokita, Managerin: „Menschen jeden Alters genießen das Leben“

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Wenn ich mich in Berlin umschaue, fallen mir Menschen jeden Alters auf, die das Leben in vollen Zügen genießen. Meine Großmutter in der Ukraine zum Beispiel, die nicht einmal größere gesundheitliche Probleme hat, verlässt trotzdem nur selten den Hof. Hier hingegen gehen Menschen mit Behinderungen zu Fuß, nehmen öffentliche Verkehrsmittel und führen ein aktives Leben.
Auch die jungen Leute stecken nicht zurück. Ihre Freiheit erlebe ich als Gegensatz zu den deutschen Regeln. Hier hängen LGBT-Fahnen an Kirchen, offene Beziehungen und strenge Gesetze koexistieren nebeneinander und trotz des recht hohen deutschen Wirtschaftsniveaus gibt es Menschen, die in U-Bahnen schlafen.
Für mich ist es nach dem Krieg schwer zu glauben, dass es irgendwo ein geregeltes, planbares Leben gibt. Die Deutschen hingegen kaufen sogar das ganze Jahr über Dauerkarten für den Zoo, weil sie wissen, wie sich ihr Leben entwickeln wird.
Während es in der Ukraine brennt, versuche ich, einen Psychologen aufzusuchen und mich nützlich zu machen, auch im Ausland. Ich habe Perlen, mache Schmuck im ukrainischen Stil und verkaufe ihn auf Flohmärkten. Das ist etwas, was ich auch ohne Sprachkenntnisse machen kann. Ich habe mir nicht ausgesucht, wo ich lebe. Aber ich bin froh, dass ich nach Deutschland gegangen bin, trotz der Kontraste und der neuen Herausforderungen.
Yulia Uvarova, Unternehmerin und Lehrerin: „Die meisten Autofahrer sind sehr vorsichtig“

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In Berlin habe ich gelernt, Fahrrad zu fahren. Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich bin vorher nicht gefahren. Ich bin mit meinen drei Kindern nach Berlin gekommen - und natürlich weiß heutzutage jeder von ihnen, wie man Fahrrad fährt. Aber ich hatte als Kind kein Fahrrad. Als sich hier in Berlin nun eine Gelegenheit bot, es zu probieren, dachte ich, ich könnte das nicht. Zwei Monate lang stand das Fahrrad herum und ich habe mich nicht dran gewagt.
Ich habe den Verkehr, das Tempo und die Zeit mit meiner Familie genossen.
Yulia Uvarova, Ukrainerin in Berlin
Doch Berlin und die Menschen hier haben mich inspiriert, es zu versuchen. Und siehe da: Ich habe gelernt, wie man abbiegt, bergab und bergauf fährt, es dauerte gar nicht lange. Vor ein paar Wochen sind meine Kinder und ich 18 Kilometer an einem Tag gefahren. Ich habe den Verkehr, das Tempo und die Zeit mit meiner Familie genossen.
Mir ist aufgefallen, dass die meisten Autofahrer in Berlin verglichen mit dem Fahrstil in der Ukraine sehr vorsichtig sind, sie lassen Fußgängern oder Radfahrern oft den Vortritt. Deshalb fahren selbst kleine Kinder auf den Straßen in Berlin und Umgebung sicher mit dem Fahrrad.
Victoria Kurilenko, Journalistin und Drehbuchautorin: „Lehrer in Berlin schreien die Kinder nicht an“

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Zunächst fanden meine deutschen Freunde eine Schule für meine Kinder. Mark ist zehn Jahre alt und Marina sechs Jahre. In der Schule wurde eine Willkommensklasse für Kinder zwischen neun und 13 Jahren eingerichtet. Die Schulleiterin sagte sofort, dass sie alles tun würde, damit die Kinder wieder öfter lächeln. Das war sehr rührend.
Überrascht hat mich, dass es keine direkte Kommunikation mit der Lehrerin gibt. Während Eltern in der Ukraine immer anrufen oder den Lehrern Nachrichten in einer Messenger-Gruppe schreiben können, bekommen sie hier nur eine offizielle E-Mail für dringende Fragen. Das Schulgelände sollen Eltern auch nicht betreten. Das verkompliziert den Prozess. Vor allem die Ukrainer haben viele Fragen. Ein unbestreitbarer Vorteil ist jedoch, dass die Lehrer in Berlin die Kinder nicht anschreien. Das ist eine andere Einstellung als in manchen Schulen in der Ukraine.
Ivan (Name aus Sicherheitsgründen geändert), Barista: „In Berlin verstecke ich meine Homosexualität nicht mehr“
Ich hatte ein geregeltes Leben in Kiew: ein Institut, eine Leidenschaft fürs Tanzen und einen Teilzeitjob in den Ferien. Als die russische Invasion begann, bestanden meine Eltern darauf, dass ich weggehe. Sie dachten, dass Kiew immer noch Putins Ziel sei. Also beschloss ich, nach Berlin zu gehen. Dort sind mir Flügel gewachsen, um es mal literarisch auszudrücken.
Ich habe immer versucht, meine Orientierung zu verbergen und nicht über meine Sexualität zu sprechen. Aber hier werde ich so akzeptiert, wie ich bin. Ich verstecke meine Homosexualität nicht mehr - denn im Grunde ist es den Leuten egal, wer ich bin. Sie interessieren sich für meine Persönlichkeit, nicht für die Geschichten um meine Person.
In Berlin habe ich auch die Barkultur entdeckt. Bars sind nicht nur ein Ort, an dem man trinken kann - wie viele Leute kritisieren -, sondern auch eine Gelegenheit, verschiedene Gemeinschaften kennenzulernen. Einmal pro Woche versuche ich, einen neuen Ort zu besuchen. Und nicht nur in Kreuzberg gibt es tolle Kneipen! Auf meinen Streifzügen durch Bars lerne ich Berlin, alle seine Straßenzüge, Plätze und Stadtteile kennen.
Ich bewundere die Tatsache, dass die Berliner wissen, wie man sich entspannt. Die Ukrainer, so scheint es mir, sind angespannter. Selbst am Ende eines Arbeitstages schaffen sie es nicht wirklich, all ihre Emotionen und ihr Pflichtgefühl beiseite zu schieben und sich einfach nur einem Hobby zu widmen oder zu einem Treffen mit Freunden zu gehen.
Apropos Freundschaften: Ich hatte den Eindruck, dass es leicht ist, einen ersten Kontakt zu Berlinern herzustellen, sie kennenzulernen und ein Gespräch zu beginnen. Viel schwieriger ist es hingegen, das Stadium der Freundschaft zu erreichen. Vor allem, wenn ein neuer Bekannter eine Familie hat, stelle ich mich inzwischen auf eine klare Trennung ein: Familienangelegenheiten sind das eine, Partys das andere. Mein persönlicher Eindruck ist, dass Freundschaften in der Ukraine einfacher wachsen, schnell besucht man sich und teilt die Hobbys mit dem anderen.
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