
© dpa/Christophe Gateau
„Werden das hoffentlich nie einsetzen müssen“ : Mit dabei, wenn die Bundeswehr in der U-Bahn den Ernstfall probt
Ein havarierter U-Bahnzug, Schüsse, Schreie. Soldaten üben im Bahnhof Jungfernheide ein Horrorszenario. Eine Nacht zwischen Scharfschützen und Schwerverletzen im Berliner Untergrund.
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Es ist kurz nach Mitternacht in der Julius-Leber-Kaserne der Bundeswehr in Berlin-Reinickendorf, als Oberstleutnant Maik Teichgräber mit einem „Guten Morgen“ grüßt. „Ich weiß, für Sie ist das keine normale Uhrzeit“, sagt der Soldat an die anwesenden Pressevertreter gerichtet, „aber für uns schon“. Damit ist die Sicherheitseinweisung eröffnet.
Teichgräber, Sachse, verheiratet, drei Kinder, ist Kommandant des Wachbataillons des Bundesverteidigungsministeriums. Der Verband der Bundeswehr wird vorrangig im protokollarischen Ehrendienst bei Staatsbesuchen und anderen staatlichen Anlässen eingesetzt. Schicke Uniform, weiße Handschuhe, roter Teppich, Gerade stehen. Manche sprechen von der „Briefmarke“ der Bundeswehr. Zumindest so lange Frieden ist.
Es geht uns darum, einsatzbereit zu sein. Das, was 900 Kilometer entfernt passiert, können wir nicht ignorieren
Oberstleutnant Maik Teichgräber, Kommandant des Wachbataillons
Denn im Verteidigungs- oder Bündnisfall ist das Wachbataillon offiziell für die militärische Sicherung des Verteidigungsministeriums sowie der Mitglieder und Objekte der Bundesregierung zuständig. Verkürzt könnte man also sagen: Teichgräbers Truppe ist letztlich dafür verantwortlich, dass die deutsche Regierung einen möglichen feindlichen Angriff überlebt. Ein Szenario, das lange unvorstellbar schien.
Doch seit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 hat sich bekanntermaßen so einiges in der europäischen Sicherheitspolitik verschoben und so steht Maik Teichgräber irgendwann in dieser Nacht auf dem Bahnsteig eines Berliner Bahnhofs und sagt: „Es geht uns darum, einsatzbereit zu sein. Das, was 900 Kilometer entfernt passiert, können wir nicht ignorieren“.
In dieser Nacht üben die Soldaten ein Szenario, das vom Kommandanten in einem möglichen Verteidigungsfall als „sehr realistisch“ beschrieben wird und die besonderen Voraussetzungen des Nah- und Häuserkampfs in einer Metropole wie Berlin erfüllt. Ein U-Bahnzug, der zum Transport von Bundeswehrsoldaten dient, wird von feindlichen Kräften kurz vor der Station Jungfernheide überfallen und gewaltsam zum Stehen gebracht.
Das Lagebild ist zunächst unklar, die anrückenden Soldaten müssen sich sowohl gegen die Angreifer wehren, als auch ihre verletzten Kameradinnen und Kameraden aus dem engen Schacht evakuieren. Es ist die erste Bundeswehrübung in einem U-Bahnhof überhaupt.

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Soldaten, die in einem kriegsähnlichen Zustand U-Bahn fahren? Ja, sagt Teichgräber. „Für uns stellt die U-Bahn ein gutes und zweckmäßiges Transportmittel dar, um Einsatzkräfte von A nach B zu verbringen“ und verweist schließlich auf die allgemeine Verkehrssituation in Berlin, gerade zur Rushhour.
Die Übung, die den Namen „Bollwerk Bärlin“ trägt, kann jedoch erst beginnen, wenn die BVG in die Betriebspause geht. Gegen 1:10 Uhr verlässt schließlich die letzte U7 in Richtung Rathaus Spandau den Bahnsteig. Drinnen ein paar verdutzte Nachtschwärmer und Schichtarbeiter, draußen Soldaten und Soldatinnen, die auf den Startschuss warten.
An der Oberfläche schützen Scharfschützen Notausstiege, um das Entkommen feindlicher Kräfte zu verhindern. Um Verwechslungen und Panikattacken vorzubeugen, hatte die Bundeswehr in den vergangenen Tagen Anwohner rund um den Bahnhof mit Flyern und Infomaterial über die anstehende Übung informiert. Unten fungiert ein ausrangierter BVG-Tunnel samt gelbem U-Bahnzug als realistische Kulisse für das Szenario.

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Dann geht es los. Mehrere Einheiten stürmen vermummt und bewaffnet die Treppen zum Bahnsteig herunter. Die Soldaten und Soldatinnen sichern das Areal und klettern dann in den Tunnel. Mit erhobener Waffe laufen sie dem havarierten U-Bahnzug entgegen, aus dem Hilfe- und Schmerzensschreie erklingen. Eine kurze Lagebesprechung, in der unter anderem die Stromschiene der BVG angesprochen wird, dann geht es in den Zug. Dann Rauch, Schreie, Schüsse.
An die begleitenden Journalisten wurde zuvor Gehörschutz ausgeteilt. Die besten Ohrstöpsel, die die Bundeswehr zu bieten hat, heißt es. Normalerweise eingesetzt beim Abschuss von Panzerfäusten. Doch die Platzpatronen der Maschinengewehre entfalten in dem engen Tunnelgewölbe die entsprechende akustische Wirkung, dass akute Tinnitus-Gefahr droht.

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Währenddessen tobt im U-Bahnwaggon der Kampf. „Was hat der für Verletzungen?“, schreit ein Soldat. „Einen Volltreffer“, antwortet ein anderer. Nachrückende Soldaten schieben eine Art Lore vor sich her, die anschließend zum Abtransport der verletzten Kameraden dient, die nach und nach aus dem Zug gehievt werden. Mit dem Gefährt werden die Verletzten schließlich zum Bahnsteig gebracht und dort behandelt. Der eine oder andere Soldat besticht dabei mit einer durchaus sehenswerten Schauspielleistung.
Wie geht es den Soldaten damit, wenn sie daran denken, dass das im schlimmsten Fall keine Übung mehr sein könnte? „Naja, für den Ernstfall trainieren wir das ja“, sagt der 23-jährige Hauptgefreite Johannes S. Seine schwarze Tarnfarbe im Gesicht ist verschmiert. Er fügt hinzu: „Mir geht es gut, weil ich das übe und mich dadurch darauf vorbereiten kann, um das hoffentlich nie einsetzen zu müssen.“
Zurück an der Oberfläche, umklammert die Nacht immer noch die Stadt. Berlin schläft. Die Stadtautobahn ist leer, die Rushhour noch fern, die Morgenshows der Radiosender beginnen frühstens in einer Stunde. Während vor den ersten Bäckereien, die Lieferwagen halten, werden im Untergrund die letzten Verletzten abtransportiert. Surreal fühlt sich das an, wie ein schlechter Traum. Es ist davon auszugehen, dass sich nicht nur die Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr wünschen, dass diese Nacht im U-Bahnhof Jungfernheide eine unwirkliche bleibt.
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