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„Und das Eis kannst du auch vergessen!“: Warum Strafen Eltern und Kindern schaden
Noch immer glauben so manche Eltern, dass Kinder nur dann das machen, was sie sollen, wenn ihnen „Konsequenzen“ drohen. Doch das stimmt nicht.
Stand:
Eine Szene, die so jeden Tag auf einem Berliner Spielplatz vorkommen kann: „Leon! Ich habe es dir dreimal gesagt, du sollst die Autos nicht werfen!“, ruft die Mutter eines Fünfjährigen wütend. Und fügt hinzu: „Noch einmal und sie sind weg! Und das Eis kannst du dann auch vergessen!“ Als Leon das nächste Spielzeugauto in den Sand wirft, geht die Frau wütend zu ihm und entreißt es ihm.
„Martin! Ich hab dir doch schon hundertmal gesagt, du sollst die Zahnpastatube zuschrauben!“ Ehefrau Claudia ist sauer, weil ihr Mann so unordentlich ist und schon wieder sie den Platz über dem Waschbecken aufräumen muss. „Wenn du das noch einmal machst, kriegst du gar keine Zahnpasta mehr! Und den Kinobesuch heute Abend kannst du auch vergessen!“
Zwei Beispiele, ähnlicher Wortlaut. Während beim Schildern der ersten Szene jedoch viele Menschen zustimmend nicken werden, liest sich die zweite nur lächerlich. Kein Erwachsener würde seinem Partner eine derart alberne Strafe androhen. Schließlich hat der Kinobesuch nichts mit der Zahnpasta zu tun – genauso wenig wie das Eis mit den Spielzeugautos.
Strafe ist ein Vorbild für den Gebrauch von Macht.
Alfie Kohn, Sozialwissenschaftler und Autor von „Liebe und Eigenständigkeit“
Was wir bei Erwachsenen also gemein und ungerecht finden, kommt uns bei Kindern oft völlig normal vor. Dahinter steckt ein zutiefst negatives Bild von Kindern als Personen, die durch Kontrolle geformt werden müssen. „Sonst lernen sie es ja nicht“, heißt es dann oft. Stimmt das?
Die Eltern wünschen sich ein empathisches Kind, doch Strafen erziehen Kinder nicht zu Empathie
Nein, sagt der amerikanische Sozialwissenschaftler und Autor Alfie Kohn. Er hat mit „Liebe und Eigenständigkeit“ ein Buch über die Folgen von Lob und Strafe geschrieben. Darin deckt er einen erstaunlichen Widerspruch auf. Gefragt, was für ein Mensch ihr Kind einmal werden soll, geben Eltern in Befragungen regelmäßig an, ihr Kind solle ein selbstständiger, empathischer, selbstbewusster Erwachsener werden. Jemand, der einen inneren moralischen Kompass hat und andere gut behandelt.
Dieselben Eltern erklären Kohn zufolge jedoch oft, Gehorsam zu erwarten und ihre Kinder für Fehlverhalten zu bestrafen. Laut dem Autor funktioniert das nicht: „Strafe ist ein Vorbild für den Gebrauch von Macht“, schreibt Kohn. Werde ein Kind bestraft, lerne es die Lektion, dass der Stärkere stets am längeren Hebel sitzt.
Mit Strafen erziehe man also keine Menschen, die das Richtige tun, weil sie es für richtig halten – zum Beispiel aus Empathie, schreibt Kohn. Sondern Menschen, die aus Angst vor negativen Folgen handeln. Wenn die kleine Annie dafür bestraft wird, dass sie dem kleinen Michael seinen Teddy weggenommen hat, denkt sie anschließend sicher nicht voller Mitleid an Michael.
Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein werden auf diese Weise nicht gefördert
Strafen bringen Kohn zufolge also Menschen hervor, die weniger auf die Gefühle anderer achten und mehr darauf bedacht sind, selbst möglichst gut aus einer Situation hervorzugehen. Wer ein empathisches Kind wolle, müsse ihm selbst Empathie entgegenbringen, schreibt der Autor. Nur das trage langfristig Früchte.
Auch selbstständig und selbstbewusst würden Kinder durch Strafen ganz sicher nicht, fährt Kohn fort und zitiert Untersuchungen, denen zufolge Kinder, die für positives Verhalten gelobt und für negatives bestraft werden, ihre intrinsische Motivation verlieren. Je enger sie kontrolliert und für Verhaltensweisen wie Helfen oder Teilen belohnt wurden, desto weniger halfen oder teilten sie anschließend aus sich heraus.
Strafen zeigen häufig einen kurzfristigen Erfolg, letztlich sind sie jedoch das Tor zum Machtkampf zwischen Groß und Klein. Langfristig nimmt das unerwünschte Verhalten durch Strafen nicht ab, sondern zu.
Pädagogin Katja Saalfrank in ihrem Buch „Kindheit ohne Strafen“
Spiele, die ihnen vormals Spaß gemacht hatten, machten den Kindern weniger Freude, auch wurden sie weniger kreativ, wenn man sie für gute Ergebnisse lobte. Sie wurden unselbstständiger und mehr darauf bedacht, eine möglichst hohe Punktzahl oder eine Belohnung zu erreichen. Andere Studien zeigen Kohn zufolge, dass Menschen, die stark kontrolliert erzogen wurden und keine bedingungslose Elternliebe erfahren haben, unglücklicher und weniger selbstbewusst sind und eine weniger gute Meinung von sich selbst haben.
Soll die Beziehung von Vertrauen oder von Macht und Angst geprägt sein?
Einen weiteres Argument gegen Strafen beschreibt die Pädagogin Katja Saalfrank in ihrem Buch „Kindheit ohne Strafen“. Erwachsene argumentierten gegenüber dem Kind oft, die Strafe sei zu seinem Besten, schreibt Saalfrank. Das führe dazu, dass das Kind unlogische Zusammenhänge akzeptiere und den eigenen Gefühlen misstraue („es tut weh, aber es ist gut für mich“).
Überhaupt müssten Eltern sich fragen, ob sie wirklich eine Beziehung wollten, die nicht von Liebe und Vertrauen, sondern von Wut, Machtausübung, Rachewünschen und Angst geprägt sei, schreibt Saalfrank. „Strafen zeigen häufig einen kurzfristigen Erfolg, letztlich sind sie jedoch das Tor zum Machtkampf zwischen Groß und Klein. Langfristig nimmt das unerwünschte Verhalten durch Strafen nicht ab, sondern zu. Es entsteht eine Machtspirale, aus der es keinen Ausweg gibt.“
Wie sich eine solche Spirale auswirken kann, beschreiben die Autorinnen Danielle Graf und Katja Seide besonders eindrücklich in ihrem Buch „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Die Jahre fünf bis zehn“: Sie haben mit der verzweifelten Mutter des zehnjährigen Mirko gesprochen, die den Sohn jahrelang mit Strafen „in der Spur“ gehalten hat. Und auf einmal funktioniert es nicht mehr. Er tut Dinge, von denen er weiß, dass er sie nicht tun soll: als Provokation. Schokocreme-Toast auf dem weißen Sofa essen zum Beispiel, und der Mutter ein Foto davon per SMS schicken.
Er ist den Eltern gegenüber so gehässig geworden
Sie müsse ihren Sohn doch jetzt bestrafen, glaubt die Mutter. Aber wie? „Hausarrest? Ich weiß nicht, ob ich das noch durchsetzen kann. Ich fürchte, er ist dafür schon zu groß geworden. Ich habe nicht die Kraft, ihn davon abzuhalten, einfach aus der Tür zu gehen.“ Er sei den Eltern gegenüber so „gehässig“ geworden.
Die Forschung stellt einhellig fest, dass Strafen und das Verhängen ,logischer Konsequenzen’ auf lange Sicht dramatisch versagen.
Katja Seide und Danielle Graf in ihrem Buch „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Die Jahre fünf bis zehn“
Die „Wunschkind“-Autorinnen zitieren eine Studie kanadischer Wissenschaftler, die herausfanden, dass Kinder, denen eine Strafe fürs Lügen angedroht wurde, wesentlich häufiger logen als Kinder die freundlich gebeten wurden, ehrlich zu sein. Oft würden bestrafte Kinder auch das Gefühl haben, mit der Strafe sei es getan, und würden sich keine Gedanken mehr darum machen, warum es etwa moralisch nicht in Ordnung war, einem anderen Kind zu schaden.
„Die Forschung stellt einhellig fest, dass Strafen und das Verhängen ,logischer Konsequenzen’ auf lange Sicht dramatisch versagen“, schreiben Seide und Graf. Auch in Sachen Geschwisterstreit ist das so.
Werden Kinder nach Geschwisterstreitigkeiten bestraft, streiten sie danach aggressiver
„Wenn meine Tochter ihren Bruder schlägt, weil er sie ärgert, sage ich: ,Noch ein Mal, und es gibt diese Woche kein Taschengeld’, dann ist Schluss mit der Gewalt“, sagt ein Berliner Vater von zwei Kindern im Teenageralter mit Überzeugung. Aber damit liegt er laut einer Studie, die die Autorin Nicola Schmidt in ihrem Buch „Artgerecht“ anführt, völlig falsch: „Wer das stärkere Kind bestrafte, dessen Kinder stritten in Zukunft aggressiver.“
Der erwähnte Berliner Vater kannte diese Studie nicht, als er sagte: „Viele Regeln werden von Erwachsenen nur eingehalten, weil sie die Sanktionen fürchten, nicht aus Einsicht. Das wäre zwar wünschenswert, funktioniert aber nicht. Es steckt in uns Menschen wohl drin – warum sollten Kinder es anders machen? Und aus welchen guten Gründen oder mit welchen Erfolgsaussichten sollten wir es Kindern anders beizubringen versuchen?“

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Damit formuliert er in treffenden Worten eine inzwischen veraltete, aber immer noch vorherrschende Ansicht über die menschliche Natur. Psychologen nennen die Ansicht „Behaviorismus“. Das Gegenteil davon ist die Bindungsforschung. „Psychologen lernen diese beiden Schulen im Studium kennen“, erklärt die Erziehungsexpertin Nora Imlau. „Die Erziehung des 20. Jahrhunderts stand zum größten Teil unter dem Schirm des Behaviorismus, bei dem es darum geht, dass jedes Wesen auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist. Um es zu einem sozialen Wesen zu machen, muss man es durch Konsequenzen formen – wie bei einem Hund.“
Die meisten Erziehungsratgeber des 20. Jahrhundert hätten auf dieser Idee basiert. „Erwünschtes Verhalten muss demnach belohnt werden, unerwünschtes ausgemerzt – durch Ignorieren und Bestrafen. Dazu muss man sagen: Behaviorismus hat einen wahren Kern – jeder Mensch hat einen Selbsterhaltungstrieb und jedes Wesen ist auf Lust aus. Und die Grundidee dieser Art, zu erziehen, bestätigt sich selbst: Kinder lernen tatsächlich aus Angst vor Konsequenzen.“
Wenn Bedürfnisse erfüllt werden, kopieren Kinder ihre Eltern ohne Strafen
Das wiederum hat aber die oben beschriebenen Konsequenzen. Der wesentlich neuere Ansatz der Bindungsforschung geht von einer anderen Prämisse aus. „Er besagt, dass wir alle mit anderen Menschen kooperieren wollen: Kinder wollen mit ihren Eltern und anderen Bezugspersonen kooperieren“, sagt Imlau.
„Wenn ihre Bedürfnisse erfüllt werden, kopieren sie von ihren Eltern Verhaltensweisen, und zwar ganz ohne Strafen und Belohnungen, weil sie den inneren Drang spüren, ein Teil der Gemeinschaft zu werden. Es gibt inzwischen viele gut fundierte Beweise, dass das nicht nur eine Theorie ist. Dass Kinder sich so psychisch gesund entwickeln. Aber diese Art des Lernens braucht Zeit und funktioniert nicht immer so schnell und geradlinig wie das Erziehen beim Behaviorismus. Lehren und Verstehen, warum man etwas nicht machen sollte – das ist natürlich anspruchsvoller für Eltern und Kinder.“
Uninformierte denken übrigens häufig, eine bindungsorientierte Beziehung zu Kindern sei dasselbe wie antiautoritäre Erziehung. Doch diese beiden Ansätze haben kaum etwas gemeinsam. Es sei doch keine Lösung zu sagen, das regele sich schon von allein, meint der bereits zitierte Berliner Vater, der Strafen zielführend findet. Es sei keine Lösung, zu sagen, dass Geschwister ihre Streitigkeiten immer selbst regeln müssten. Da setze sich doch immer der Stärkere durch.
Zwischen streitenden Geschwistern zu vermitteln, kostet Zeit und Nerven
Wenn die Kinder etwa gleich alt und stark sind, könne man das durchaus versuchen, sollte die Kinder aber im Auge behalten, findet dagegen Autorin Nicola Schmidt. Ansonsten helfe ein Vermitteln zwischen den Kindern meist viel besser als eine Strafe: So fühlten sich beide gesehen und lernten, wie man Konflikte löst. Aber so ein Vorgehen braucht eben Zeit, Nerven und Einfühlungsvermögen.
Wie genau ein Alltag ohne Strafen funktioniert und was dafür wichtig ist, hat der inzwischen verstorbene, weltweit bekannte dänische Erziehungsexperte Jesper Juul in seinen Büchern herausgearbeitet: Eltern müssten die Führung übernehmen, ohne das Kind so zu behandeln, als sei es weniger wert, schreibt Juul. Sie müssten ihre eigenen Grenzen zeigen und verteidigen. Und sie sollten sich so geben, wie sie wirklich sind.
Das bedeute, dass sie zum Beispiel wütend werden dürften, in Situationen, die sie eben wütend machen. Aber ohne das Kind dabei abzuwerten. „Ich will das nicht“ ist laut Juul eine deutliche und starke Aussage. Ein „Sonst gibt es Fernsehverbot“ sei nicht besser, sondern zeige, dass der Elternteil sich nicht zutraue, sich auch ohne Strafe durchzusetzen.
„Interessanterweise fragen sich viele Eltern nach erfolgter Bestrafung beklommen, ob sie womöglich dem Verhältnis zu ihren Kindern geschadet haben“, schreibt Juul in seinem Klassiker „Das kompetente Kind“. Dann solle das Kind den Vater umarmen. „Ihr Unbehagen ist gerechtfertigt“, schreibt Juul weiter. „Diese Art der als Konsequenz verstandenen Bestrafung zerstört das Verhältnis zu den Kindern Schritt für Schritt.“ Vor allem, weil der Erwachsene dadurch die Verantwortung für das Geschehene vollkommen von sich weise.
Doch in der Verantwortung sind wir Eltern laut Juul immer. Auch und vor allem, wenn das Kind gerade nicht das macht, was wir von ihm wollen.
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