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Der Mordprozess am Berliner Landgericht hatte ein überraschendes Ende.

© Fabian Sommer/dpa

Update

Unglaubliche Wende im Berliner Gericht: Der Hauptzeuge gesteht plötzlich den Mord – nach 23 Jahren

Ein 45-Jähriger belastet den Angeklagten, dabei ist er selbst der Täter. Man sei „haarscharf an einem Justizirrtum vorbeigeschrammt“, sagen die Verteidiger.

Der Fall scheint beispiellos: In einem Mordprozess am Berliner Landgericht hat der Hauptbelastungszeuge plötzlich zugegeben, der wahre Täter zu sein. Glückliches Ende für den Angeklagten. Er wurde am Freitag nach monatelanger U-Haft vom Mordvorwurf freigesprochen. Der Vorsitzende Richter sagte, auch er mit fast 30-jähriger Berufserfahrung habe einen solchen Verfahrensverlauf „noch nicht ansatzweise“ erlebt. Für die erlittene Haft sei Serghei N. zu entschädigen, hieß es weiter in dem Freispruch auf Kosten der Landeskasse.

Der 59-jährige Mann, der aus Moldawien stammt und seit vielen Jahren mit seiner Familie in Italien lebt, saß fast zehn Monate hinter Gittern – erst in Auslieferungs- und dann in Berlin in Untersuchungshaft. „Ich wusste, dass ich unschuldig bin“, sagte Serghei N. nach dem Urteil. Seine beiden Verteidiger glaubten ihm, die Justiz aber sah einen hinreichenden Tatverdacht. „Herr N., uns als Strafkammer tut es leid, dass Sie fast zehn Monate ihres Lebens verloren haben“, sagte nun der Vorsitzende. Die Staatsanwältin hatte erklärt: „Diese Wendung des Prozesses war nicht vorhersehbar.“

Seit Ende Januar lief die Verhandlung. Es ging um tödliche Schüsse auf einen Berliner Bauunternehmer vor rund 23 Jahren. Der 41-jährige Frank E. hielt sich wegen Renovierungsarbeiten gerade im Badezimmer seines Büros in Moabit auf, als er am Nachmittag des 3. März 1998 hinterrücks erschossen wurde. Erst trafen ihn zwei Kugeln in den Rücken, dann, als er sich aufbäumte, eine dritte in den Kopf.

Intensiv wurde ermittelt, doch es schien ein Cold Case, ein unlösbarer Fall zu sein. Bis im April 2017 bei der Berliner Polizei ein Mann aus England auftauchte. Der 45-jährige Veaceslav A. gab zu Protokoll, dass es sich bei dem Täter um Serghei N., seinen damaligen Kollegen auf dem Bau handele. Beide seien für den erschossenen E. tätig gewesen. N. habe ihm gegenüber kurz nach der Tat die Schüsse zugegeben, behauptete der Mann aus England damals.

Mit seiner Aussage wolle er seine „Seele reinigen“. Ein anderer damaliger Bauunternehmer, ein derzeit wohl wegen Betrügereien in Großbritannien inhaftierter Mann, soll den Mordauftrag erteilt und dem angeheuerten Killer einen Lohn von 1500 DM (knapp 770 Euro) in Aussicht gestellt haben.

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Detailliert machte A. Angaben zur Tat, die sich mit Erkenntnissen der Ermittler deckten. Andere Schilderungen von A. sollen wirr gewesen sein. Einen Tag lang sagte er aus und reiste dann ab. Unerreichbar für weitere Vernehmungen war A. danach. Die Staatsanwaltschaft bat britische Behörden um Rechtshilfe und schickte einen auf A. bezogenen Fragenkatalog nach England.

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Eine Antwort gab es nicht. Die Richter hatten nun für seine Befragung am 14. April gleich zwei Psychiater bestellt, die ihn begutachten sollten. Sein dritter Satz machte fassungslos: „Ich habe Frank E. im Badezimmer erschossen.“ A. wurde noch im Gerichtssaal festgenommen. Und N. kam zwei Tage vor dem Urteil frei.

306 Tage lang unschuldig hinter Gittern

Die früheren Aussagen von A. führten zur Festnehme von N. in Italien. Er ist ein bis dahin nie bei Polizei und Justiz aufgefallener Familienvater. N. saß schließlich 306 Tage unschuldig hinter Gittern. Dennoch stand er am letzten Prozesstag ohne Groll im Saal. „Ich bin überglücklich, dass ich wieder ein freier Mann bin.“ Er wolle alles vergessen - „wie einen schrecklichen Traum“.

Die Verteidiger appellierten: „Ein bisschen mehr Fingerspitzengefühl, wenn es um U-Haft geht.“ Im Fall von Serghei N. sei man haarscharf an einem Justizirrtum vorbeigeschrammt. Ihm steht eine Haftentschädigung von knapp 23.000 Euro zu.

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