Berlin: Unterrichten, füttern, wickeln
An der Fläming-Grundschule unterrichten Lehrer und Erzieher behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam. Denn alle sollen von einander lernen
„Die Kindheit ausnutzen und glücklich sein, gleiche Rechte für alle und eine Rutsche, die alles verbindet – ja, das wollen wir“, singen die Schüler der Klasse 4b. Sie proben „Linie 9“, frei nach dem Gripstheater-Musical „Linie 1“. Lena liegt im Rollstuhl und ist mittendrin. Ihre Mitschüler schieben sie abwechselnd. Sie kann nicht mehr sprechen, ist blind und wird durch eine Magensonde ernährt, weil sie an einer seltenen Stoffwechselkrankheit leidet. Natalie wurde mit dem Down-Syndrom geboren. Ihr Zustand wird von Tag zu Tag schlechter. Als Natalie während der Proben bemerkt, dass Lena sich unwohl fühlt, nimmt sie ihre Hand und streichelt sie.
An der Friedenauer Fläming Grundschule ist die Klasse 4b eine von sechs Schulklassen, in denen behinderte Kinder nach dem Fläming-Modell integriert werden. Das heißt, in Klassen von maximal 20 Kindern lernen bis zu fünf behinderte Schüler. Je nach Schwere der Behinderung, wird der Lehrer von ein oder zwei Erziehern unterstützt. „Während ich mit einer Gruppe Aufgaben durchgehe, sind die Erzieherinnen für Schüler da, die stärker gefördert werden müssen“, sagt Klassenlehrerin Gudrun Haase. Die Sonder- und Theaterpädagogin glaubt, dass die Zusammenarbeit mit Erziehern der geeignetste Weg ist, behinderte Kinder zu integrieren: „Einige sind unruhig, wollen besonders intensiv betreut werden, andere müssen gefüttert oder gewickelt werden. Alleine könnte ich mich nicht um alle kümmern.“ Erzieher schlichten Konflikte, trösten die Kinder und sorgen dafür, dass sie sich wohl fühlen. Sie ergänzen den Unterricht mit Psychomotorik-, mit Musik-, Kunst- und Spielkursen. „Wir richten uns dabei nach den Defiziten der Kinder. Beispielsweise kann ein schiefer Gang mit gezielten Übungen verbessert werden oder Sprachstörungen durch Singen“, sagt Sozialpädagogin Ingeborg Nebl-Koller. Das Korrigieren von Haus- und Klassenarbeiten erledigen alle drei Betreuerinnen gemeinsam.
Die Fläming Grundschule in Friedenau wird von 620 Schülern besucht, 56 benötigen „sonderpädagogischen Förderbedarf“. Sie werden von 39 Grundschullehrern und sieben Sonderpädagogen unterrichtet, von 14 Erziehern betreut. Teil des Fläming-Modells ist auch die enge Zusammenarbeit der Lehrer. Die Sonderpädagogen beraten und unterstützen andere Lehrer, außerdem nehmen alle regelmäßig an Fortbildungen teil“, sagt Schulleiterin Elke Hübner. Zudem kommt eine Krankengymnastin an die Schule, eine Ambulanzlehrerin hilft Sehbehinderten und Blinden vier Stunden in der Woche. Sonderpädagoge, Gestalt- und Psychotherapeut Fred Ziebarth fördert Kinder durch Einzelunterricht.
Elke Hübner kämpft seit 28 Jahren für die Integration: Das Fläming-Modell wurde von ihr mit entwickelt und durchgesetzt. „Wir wollen die Schule für Kinder passend machen, nicht umgekehrt“, sagt sie. Als erste Schule der Bundesrepublik richtete die Fläming-Schule Integrationsklassen ein. Das „Flaggschiff“ unter den Integrationsschulen wurde 1997 von der OECD ausgezeichnet.
Durchgesetzt hat sich in Deutschland jedoch ein anderes Modell, das nach der Schöneberger Uckermark-Grundschule benannt wurde. Hier sind ausschließlich Sonderpädagogen Mitbetreuer: Bei drei behinderten Kindern pro Klasse wird eine halbe sonderpädagogische Stelle zugestanden. Welches Modell teurer ist, lässt sich laut Elke Hübner nicht genau beziffern.
Allen Integrationsmodellen liegt das Ziel zugrunde, dass gesunde und behinderte Kinder voneinander lernen: In Intergrationsklassen finden Kinder mit Behinderungen positive Vorbilder, die ihre Entwicklung fördern. „In Sonderschulklassen fehlen Anreize, dort ziehen sich die Schüler häufig gegenseitig herunter“, meint Lehrerin Gudrun Haase. Die nicht behinderten Kinder lernen durch den gemeinsamen Schulalltag mit Integrationsschülern, mit Behinderungen und Krankheiten umzugehen. Wenn Natalie im Mathematikunterricht mit ihren Händen die Zahl Zehn zeigen will, legt Jolanda drei von ihren Fingern dazu. Natalie hat an der linken Hand nur zwei Finger.