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Goldesel. Vieler Lübarser leben von der Pferdewirtschaft.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Lübars: Wo die Bauern Mauern plätten

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 51: Lübars.

Totenstille lag über dem Lübarser Dorfanger. Weder bei der Feldsteinkirche noch auf den umliegenden Bauernhöfen war ein Mensch zu sehen. Wäre mir nicht ein dezenter Mistgeruch in die Nase gestiegen, ich hätte gezweifelt, ob hier überhaupt jemand lebte. Erst, als die Kirchenglocken in Mittagsgeläut ausbrachen und die Hunde des Dorfs jaulend einstimmten, machte Lübars einen etwas belebteren Eindruck.

Drei kleine Bauwerke stachen mir auf dem Dorfanger ins Auge. Das erste war eine schilfgedeckte Lehmhütte, die 1993 der hiesige Heimatverein aufgestellt hatte, um zu demonstrieren, wie im 13. Jahrhundert die Erstbewohner des Dorfs gehaust hatten. Kaum kleiner war eine alte, gelbe Telefonzelle, die vermutlich aus den 50er Jahren stammte, aber mit modernster Telefon- und Kreditkartentechnik ausgestattet worden war – für wen auch immer. Nur ein paar Meter entfernt stand eine neue, magentafarbene Telefonzelle, die man entkernt und zur Büchertauschbox umfunktioniert hatte. Lange blieb ich vor dem Ensemble architektonischer Merkwürdigkeiten stehen, das den Archäologen der Zukunft sicher einiges Kopfzerbrechen bereiten wird.

Ein Gedenkstein markiert den Checkpoint Qualitz

Ein anderes architektonisches Rätsel ließ sich schnell auflösen. Wo Lübars an Blankenfelde grenzt, stieß ich auf einen kleinen Gedenkstein: „Checkpoint Qualitz“, las ich – „als Dank und zur Erinnerung an den mutigen Grenzdurchbruch am 16. Juni 1990.“ Als ich im Dorf nach dem Stein fragte, landete ich schnell im Wohnzimmer des Bauern Christian Qualitz, der mir erzählte, wie er 1990 zusammen mit seinem inzwischen verstorbenen Vater Hubert ein Loch in die Berliner Mauer gerissen hatte. Auf eigene Faust hatten die beiden mit ihrem Traktor eine Durchfahrt zwischen Lübars und Blankenfelde geschaffen. „Beauftragt hatte uns niemand“, sagte Qualitz. „Aber mein Vater war ein Typ, der gerne vorpreschte – dem ging das alles zu langsam mit der Mauer.“

Ab 4 Uhr kann man kein Fenster mehr öffnen

Als ich Qualitz fragte, wie es ihm seit jenem Tag ergangen war, fiel ihm wenig Gutes ein. Seit der Wende, erklärte er, donnere jeden Morgen der Pendlerverkehr aus dem Osten über das Lübarser Kopfsteinpflaster – ab 4 Uhr morgens könne man praktisch kein Fenster mehr öffnen, weil die lange versprochene Entlastungsstraße nie gebaut worden sei. Außerdem würden seit dem Mauerfall immer mehr Flächen im Ortsteil unter Landschaftsschutz gestellt, auf denen die Bauern keine Zäune mehr aufstellen dürften. Die brauche es aber für die Pferdewirtschaft, von der in Lübars sechs Bauernhöfe, vier Ausflugslokale, eine Eisdiele und ein Reitbedarfsladen lebten. „Unsere Familie bewirtschaftet diesen Hof seit 340 Jahren“, sagte Qualitz. „Aber ich bin nicht sicher, ob wir nochmal 50 Jahre durchhalten.“

Am Ende fragte ich mich fast, ob Qualitz es bereute, dass er damals die Mauer eingerissen hatte. „Sagen wir mal so“, knurrte er, als ich ihn darauf ansprach. „Wir haben hier die Vorarbeit gemacht – aber gedankt hat es uns keiner.“

Nach dem Gespräch stand ich lange am Ufer des Tegeler Fließes, dessen mäandernder Lauf die Grenze zwischen Berlin und Brandenburg markiert. Ich versuchte mir vorzustellen, dass dieser sumpfige Bach einst Teil des Eisernen Vorhangs war. So lange ich auch hinsah, es wollte mir nicht in den Kopf.

Fläche: 5,0 km² (Platz 75 von 96)
Einwohner: 5088 (Platz 89 von 96)
Durchschnittsalter: 46,8 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Hubert und Christian Qualitz (Landwirte und Mauerbrecher)
Gefühlte Mitte: Dorfkirche
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

Diese Kolumne erschien am 3. März 2018 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin.

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