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Der Turm, den sie Bierpinsel nennen.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Steglitz: Wo die Spatzen lauter zwitschern

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf NR. 82: Steglitz.

Fläche: 6,79 km² (Platz 55 von 96)
Einwohner: 74533 (Platz 16 von 96)
Durchschnittsalter: 44,6 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Johann Adolph Heese (Seidenraupenzüchter), Carl Friedrich von Beyme (Schlossherr)
Gefühlte Mitte: Bierpinsel

Jedes Mal, wenn ich zum Einkaufen in die Schloßstraße fahre, Berlins zweitgrößte Einzelhandelsmeile nach der City West, esse ich danach noch ein Stück Bienenstich in der Thoben-Filiale neben dem Bierpinsel. Nicht weil der Bienenstich besonders gut oder das Café besonders ansprechend wäre – beides ist so entschieden mittelmäßig wie der Rest der Schloßstraße. Nein, was mich hierhin zieht, sind die Rentner – und die Spatzen.

Die Rentner treffen sich neben dem Bierpinsel zum Kaffeetrinken, und ich kenne keinen anderen Ort in Berlin, wo man so gut Rentnergespräche belauschen kann.

„… ich habe eine gute Ehe geführt. Vier gut geratene Kinder, die alle gutes Geld verdienen …“

„… Wasser im Bauch, alles voller Schläuche. Es wäre besser, sie machte endlich die Augen zu …“

„… meine Jüngste macht mir Sorgen. Die hält’s mit keinem Mann lange aus. Jetzt ist sie 50 und hat wieder einen neuen …“

Die Spatzen treffen sich in einem kleinen Baum unmittelbar vor dem Café. In den Abendstunden, wenn der Himmel dunkler und die Schaufensterbeleuchtung heller wird, ist der Baum von einem ohrenbetäubenden Gezwitscher erfüllt. Ich nehme an, dass sich die Steglitzer Spatzen hier ganz ähnlich wie die Steglitzer Rentner über ihr Eheleben, ihre Krankheiten und ihren Nachwuchs austauschen.

Auf einer Parkbank neben dem Spatzenbaum sitzt oft ein Obdachloser, mit dem ich jedes Mal ein paar Worte wechsle, wenn ich ihn hier antreffe. Er hat einen süddeutschen Akzent und formt seine Sätze so ungewöhnlich, dass ich mir nie ganz sicher bin, ob er ein bisschen verrückt oder außergewöhnlich intelligent oder möglicherweise beides ist.

„Das ist richtig“, antwortete er zum Beispiel, als ich ihn auf den Rentnertreff in der Thoben-Filiale ansprach. „Dort versammelt sich vor allem die ältere Generation, aber auch Geschäftsleute und ferner Serbokroaten sind oft gesehene Gäste.“ Wenn ich länger mit dem Obdachlosen rede, färbt seine Sprechweise irgendwann auf mich ab.

„Könnte es nicht sein“, fragte ich ihn bei unserer letzten Begegnung, „dass in diesem Baum einst die berühmten Stieglitze zwitscherten, nach denen Steglitz benannt ist?“ Lächelnd schüttelte er den Kopf. „Dafür ist der Baum zu jung“, wandte er berechtigt ein, „und die Vögel sind ganz überwiegend Spatzen, auch wenn sich mitunter Finken und Kleinvögel anderer Art zu ihnen gesellen.“

Der Obdachlose hat zu allem in Steglitz etwas zu sagen – sei es zum noblen Villenviertel am Fichteberg („ein Wohnort der oberen vier oder sieben Prozent“), dem alten Rathaus, in dessen Ratskeller 1896 die Wandervogelbewegung gegründet wurde („ein Verein der Unbehaustheit“) oder dem 30-stöckigen Verwaltungsbau am Steglitzer Kreisel, der gerade zu einem Wohnturm umgewandelt wird („für Liebhaber von Schwindelgefühlen“).

Nur eines konnte mir auch der Obdachlose nicht verraten – nämlich warum der leer stehende Futurismus-Bau neben dem Rentnercafé „Bierpinsel“ genannt wird. Auch alle anderen Passanten, die ich an der Schloßstraße ansprach, hatten keine wirklich überzeugende Erklärung. „Weil’s da früher Bier gab“, sagten die einen. „Weil’s wie ein Pinsel aussieht“, meinten die anderen.

Wie ich später erfuhr, sollen die Architekten des Bierpinsels bei der Formgebung ihres Baus übrigens etwas ganz anderes im Sinn gehabt haben: nämlich einen Baum.

Alle Folgen

80 Ortsteile hat Jens Mühling bereits besucht. Alle Folgen seiner Kolumne „Mühling kommt rum“ finden Sie auf unserer Internetseite unter: www.tagesspiegel.de/96malberlin

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