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Herbst am Tegeler See.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Tegel: Von gläubigen Russen und alten Eichen

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf NR. 83: Tegel.

Fläche: 33,7 km² (Platz 2 von 96)
Einwohner: 35 474 (Platz 39 von 96)
Durchschnittsalter: 47,4 (Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Alexander und Wilhelm von Humboldt (Gelehrte)
Gefühlte Mitte: Alt-Tegel

Auf dem Russisch-Orthodoxen Friedhof zwischen der A111 und der Tegeler S-Bahntrasse entdeckte ich ein Hinweisschild, das mich neugierig machte: „Werte Friedhofsbesucher! Ab sofort ist es strengstens untersagt, ausgebrannte Grabkerzen oder andere Gegenstände mit heiligen christlichen Symbolen (Ikonen) in die Abfallkörbe zu entsorgen!“

Zwei russische Damen zeigten mir in der Friedhofskirche den Spezialeimer zur Entsorgung sakralen Sondermülls. Der Inhalt, erklärten sie mir, werde rituell verbrannt, damit er nicht mit Profanmüll in Berührung komme. Keinesfalls, fügten sie hinzu, dürfe außerdem orthodoxes Altarbrot auf den Friedhofsboden gekrümelt werden, weil man sonst darauf treten könnte, was Sünde sei. Es sei vorgekommen, versicherte mir eine der Damen, dass die Friedhofsameisen solche Krümel aufgelesen und in Form eines Kreuzes auf dem Boden ausgebreitet hätten, den Menschen zur Warnung.

Auch sonst ist der Friedhof ein wunderlicher Ort. Bedeckt ist er mit 4000 Tonnen russischer Erde, die Zar Alexander III. Ende des 19. Jahrhunderts nach Berlin verfrachten ließ, damit sich seine Landsleute in heimischem Boden bestatten lassen konnten. Unter anderem wurde hier Wladimir Nabokow beigesetzt, der Vater des gleichnamigen Schriftstellers, nachdem russische Monarchisten den Revolutionsflüchtling 1922 in Berlin ermordet hatten. Bis heute, erklärte mir eine der Damen in der Kirche, sei der Friedhof unter Exilrussen äußerst beliebt. „Viele reservieren sich hier Gräber“, sagte sie. „Bald wird der Platz knapp.“

Berlins älteste Gaststätte?

In den Weiten des zweitgrößten Berliner Ortsteils (nach Köpenick) verbergen sich überhaupt die erstaunlichsten Dinge. Etwa der Borsigturm, Berlins einziger historischer Wolkenkratzer, ein Backsteinbau aus den 20er Jahren. Oder die Ausflugslokale „Wiesenstein“ und „Alter Fritz“, die sich an der Karolinenstraße genau gegenüberliegen und beide Berlins älteste Gaststätte sein wollen. „Soll so sein“, antwortete eine Kellnerin im „Wiesenstein“, als ich sie auf den Superlativ ansprach. „Aber Sie sind skeptisch?“, hakte ich nach. „Na ja“, antwortete sie, „die einen nennen sich älteste Gaststätte, die anderen ältestes Wirtshaus, älteste Kneipe, ältestes Lokal…“

Dann ist da noch der Schlosspark Tegel, der eigentlich in Privatbesitz ist, aber eine Anwohnerin riet mir, die entsprechenden Hinweisschilder getrost zu ignorieren. Da ich an jenem Tag offenbar der Einzige war, der diesem Rat folgte, begegnete mir im Inneren des märchenhaften Parks rund um das Schloss und die Grabstätte der Familie Humboldt keine Menschenseele – wo gibt es das sonst in Berlin?

Westlich des Parks, nicht weit vom Ufer des Tegeler Sees entfernt, steht eine alte Eiche. Ihr Stamm hat einen Umfang von fast sechs Metern, ihr Alter wird auf über 800 Jahre geschätzt. „Dicke Marie“ sollen die Humboldt-Brüder Alexander und Wilhelm den Baum genannt haben, in Anspielung auf die beleibte Köchin der Familie. Auf einer Bank neben der Eiche saßen zwei junge Damen. Die „Dicke Marie“, erklärte mir eine von ihnen, möge es sehr, umarmt zu werden, ich solle sie ruhig „kräftig knuddeln“. Auch könne man ihr kleine Gaben hinterlassen, als Opfer für die Geister des Waldes.

Als ich den großen Baum näher betrachtete, sah ich auf einem Ast tatsächlich ein paar Münzen und bunte Bänder liegen. Sieh an, dachte ich – in Tegel glauben also nicht nur die Orthodoxen an Wunder.

Alle Folgen

Über 80 Ortsteile hat Jens Mühling bereits besucht. Alle Folgen seiner Kolumne „Mühling kommt rum“ finden Sie auf unserer Internetseite unter: www.tagesspiegel.de/96malberlin

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