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Erinnerung mit Stiel. Nelken an der Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof.

© Jens Mühling

Unterwegs in Berlins Ortsteilen: Wo die Nelken niemals welken

96 Ortsteile hat die Stadt. Unser Kolumnist bereist sie alle – von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf. Mühling kommt rum, Teil 48: Lichtenberg.

Lichtenberg begrüßte mich in sozialistischem Rot. Gleich unter der S-Bahn-Brücke am Bahnhof Frankfurter Allee sah ich die erste liegen gelassene Nelke am Straßenrand. Der Jahrestag der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht lag noch nicht weit zurück, am 15. Januar waren Berlins Alt- und Neumarxisten zu den Gräbern ihrer Vorkämpfer gepilgert und hatten eine Blumenspur quer durch den Ortsteil gezogen. Ein Dutzend halb verwelkter Nelken zählte ich vor dem Spartakus-Denkmal am Rathausplatz, acht rote Tulpen vor dem Mahnmal für die antifaschistischen Widerstandskämpfer an der Pfarrkirche. Ich folgte der Spur gen Osten, bis ich die Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof erreichte, wo ich vor lauter Nelken die Gräber kaum sah.

Kaum Blumen für Walter Ulbricht

Der weitaus höchste Blumenberg türmte sich über der Grabplatte von Rosa Luxemburg. Mit etwas Abstand folgte Karl Liebknecht, deutlich dahinter Ernst Thälmann, der vierte Platz gehörte Wilhelm Pieck, den fünften teilten sich Rudolf Breitscheid, Otto Grotewohl, Franz Künstler, Franz Mehring und John Schehr. Der eindeutige Loser-Linke – mit drei traurigen Nelken und einer einsamen roten Rose – war Walter Ulbricht.

Ein älterer Friedhofsbesucher erzählte mir, dass auf Rosa Luxemburgs Grab noch viel mehr Blumen gelegen hatten. Ein paar Damen, die hier ehrenamtlich für Ordnung sorgten, hatten am Morgen nach dem Gedenktag etwas Struktur in die Nelkenstapel gebracht und dabei ein paar Blumen umverteilt, der sozialistischen Gerechtigkeit wegen. „Das sind Alt-Linke aus den umliegenden Wohngebieten“, erklärte mir der Mann. „Aber selbst die haben gesagt: Nö, der Ulbricht, der kriegt nüscht!“

Auf dem Weg zurück vom Friedhof sprach mich ein hilfesuchender Mann an, der sich als älterer Flüchtling aus Tschetschenien herausstellte. Er war auf dem Weg zu einem Arzttermin und konnte die Adresse nicht finden. Während ich ihn ein paar Straßenzüge begleitete, versuchte er mir etwas zu erzählen, das ihm auf dem Herzen brannte. „Tschetschenien – Polizei schlecht“, sagte er immer wieder. „Sehr schlecht Polizei.“ Erst als wir uns verabschiedeten, begriff ich, dass die Praxis des Lungenarztes, zu dem ich ihn geführt hatte, in einem Nebengebäude der ehemaligen Stasi-Zentrale lag. Ganz schlecht Polizei.

Das Café im Hof der Stasi-Zentrale heißt "Vernunft"

Auf dem riesigen Stasi-Areal war keine einzige Nelke zu sehen – die Sozialisten schienen es bei ihrem Gedenkmarsch weiträumig gemieden zu haben. Ein Café mit dem seltsamen Namen „Vernunft“ lag im Innenhof. Nachdem ich eine Weile überlegt hatte, welche besseren Namen mir für ein Café im Stasi-Hof einfielen, kam ich zu dem Schluss, dass „Vernunft“ nicht der unvernünftigste Name ist.

Ich beendete den Tag im vietnamesischen Dong-Xuan-Einkaufscenter, wo ich das Gefühl nicht loswurde, einen Ortsteil im Ortsteil betreten zu haben, ein autarkes Viertel mit seinen eigenen Klamotten- und Lebensmittelläden, Friseur- und Tattoo-Studios, Restaurants, Cafés und Bars. Und mit unzähligen Blumenhändlern, bei denen die Lichtenberger Kommunisten vermutlich ihre Nelken kaufen.

Mit Lichtenberg habe ich nun übrigens genau die Hälfte der 96 Berliner Ortsteile hinter mir. Es war mir ein Lichten-Bergfest!

Fläche: 7,22 km² (Platz 50 von 96)
Einwohner: 41.079 (Platz 32 von 96)
Durchschnittsalter: 39,8 (ganz Berlin: 42,7)
Lokalpromis: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (Sozialisten)
Gefühlte Mitte: Stasi-Zentrale
Alle Folgen: tagesspiegel.de/96malberlin

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