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Von Tag zu Tag: Vergesslichkeit
Claudia Keller wundert sich über den Besuch eines alten Herrn. Ein Kommentar
Vor einem Jahr hat Papst Franziskus ein „Heiliges Jahr der Barmherzigkeit“ ausgerufen. Es geht nun zu Ende. Das hat das Katholische Büro in Berlin zum Anlass genommen und seinen Jahresempfang am Dienstagabend der Barmherzigkeit gewidmet. Das Katholische Büro vertritt die Anliegen der Kirche bei den Ländern Berlin und Brandenburg und ist vernetzt in Politik, Kultur und Gesellschaft. Großer Bahnhof also mit einigen hundert Gästen, Ausstellungseröffnung und prominenten Rednern.
Erzbischof Heiner Koch sprach, Kulturstaatsministerin Monika Grütters trat ans Mikrofon und nach ihr eine kleine ältere Dame mit weißem Haar. Auch sie sprach über Barmherzigkeit und auch über Buße. Während sie redete, wurde es unruhig im Publikum. „Da geht mir das Messer in der Tasche auf“, sagte ein evangelischer Theologe. „Ich fasse es nicht“, raunte ein anderer.
Ilsegret Fink? Erinnert sich noch jemand an Heinrich Fink? Humboldt-Universität? Ilsegret ist die Ehefrau von Heinrich Fink, von IM „Heiner“.
Heinrich Fink, heute 81 Jahre alt, unterrichtete in der DDR evangelische Theologie an der Humboldt-Universität, war Dekan der Fakultät und bei vielen Studenten beliebt. 1990 wurde er Rektor der Universität. Doch dann verdichteten sich die Indizien, dass er über zwanzig Jahre Zuträger der Stasi gewesen ist, 1992 entließ ihn die Uni fristlos. Das war damals ein Skandal und ging durch alle Zeitungen. Fink klagte gegen seine Entlassung durch alle Instanzen und zog sogar vors Bundesverfassungsgericht, wo er 1997 scheiterte.
Vielen 50-Jährigen sagt der Name Heinrich Fink nichts mehr
Ilsegret Fink ist nicht Heinrich Fink, und niemand darf in Sippenhaft genommen werden. Doch bei einer Rede über Buße und Barmherzigkeit wäre es angemessen gewesen, wenn sie auf die Vorwürfe gegen ihren Mann eingegangen wäre, der mit einer ziemlich unbarmherzigen Institution zu tun hatte und im Publikum saß. Doch das tat sie nicht.
1989 war Heinrich Finks Stasi-Akte teilweise zerrissen worden. 2005 wurden 600 Blätter aus den Schnipseln rekonstruiert. Sie widerlegten Finks Aussage, er sei unwissentlich von der Staatssicherheit abgeschöpft worden. Es stellte sich heraus, dass er Kollegen bespitzelt und Studenten denunziert hatte, die Stasi dankte es ihm mit Geldprämien und Dienstmedaillen. „Der IM machte auch von sich aus auf Einzelpersonen aufmerksam“, zitierte der „Spiegel“ 2005 aus der Akte. „Er arbeitet konspirativ, hält sich an die festgelegte Auftragserteilung und ist selbst mit aktiv.“ Trotzdem bleibt Fink bei seiner Darstellung, dass er nie mit der Stasi zusammengearbeitet habe und behauptet, seine Wohnung sei verwanzt gewesen und seine Gespräche abgehört worden.
Amnestie durch Amnesie
Vielen 50-Jährigen heute sagt der Name Fink nichts mehr. Auch Martina Köppen, die Leiterin des Katholischen Büros, erfuhr davon erst am Dienstagabend durch verärgerte Gäste. Ilsegret Fink war ihr als originelle evangelische Theologin empfohlen worden, von jemandem, der von Heinrich Finks Geschichte ebenfalls nichts wusste. „Ich bedaure die Verletzung und Verärgerung, die entstanden ist“, sagte Köppen. Man kann ihr glauben. Und doch macht diese Episode nachdenklich. Ein Blick ins Internet hätte genügt, um sich über Heinrich Fink zu informieren. Weil das nicht geschehen ist, konnten die Finks 27 Jahre nach dem Mauerfall auf einem Empfang wohlmeinender Berliner als nettes älteres Ehepaar auftauchen, über Barmherzigkeit und Buße sprechen, als wäre nichts gewesen. Die Lehre daraus: Man muss nicht Buße tun, auch nicht auf Barmherzigkeit warten. Man muss nur alt genug werden, dann ist alles irgendwann vergessen. Die Amnestie, die die Gerichte Heinrich Fink bislang verweigerten, wird ihm durch die Amnesie der Öffentlichkeit zuteil.