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Berlin: Viel Platz für Ausfallschritte

Boxen raus, Musik an und los: Tangoliebhaber verabreden sich an öffentlichen Orten zum Tanzen.

Jens Stuller breitet eine graue Baufolie aus und befestigt sie mit Klebeband am Asphalt. „Es ist wie immer ein Experiment“, sagt er. Mitten auf dem Tempelhofer Feld, unweit einer ehemaligen Landebahn, bereitet er alles vor für einen Tanz im Freien. Zum fünften Mal in diesem Sommer veranstaltet Stuller einen Tanztreff auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens. „Manchmal kommen 20 Leute und als es geregnet hat, stand ich auch mal ganz alleine hier.“ Der 52-Jährige trägt Hemd und Anzughose und hebt sich dadurch von den anderen Freizeitsportlern ab, die er per Facebook und E-Mail-Verteiler eingeladen hat. Seine Veranstaltungen sind öffentlich: Jeder, der Lust hat und einigermaßen tanzen kann, darf mitmachen.

Neben den vielen Tangoclubs gibt es in Berlin eine feste Szene von Tangotänzern, die sich unter dem Namen „Hit & Run“ regelmäßig an öffentlichen Plätzen zum Tanzen verabredet. Sie tanzen für etwa 45 Minuten und ziehen dann weiter. Gerannt wird nur, wenn Ordnungswächter die Tänzer vertreiben. Die Idee hat der Tanzlehrer Thomas Rieser von der Nou-Tangoschule aus Kalifornien mit gebracht. Die „Tango Hit & Runs“ finden beispielsweise am Gendarmenmarkt, auf der Museumsinsel oder in den Hackeschen Höfen statt, eingeladen wird per Facebook. Jeder, der mag, kann einen Termin und einen Ort vorschlagen. Am Freitag soll anlässlich des Berliner Freiwilligentags auf dem Walter-Benjamin-Platz in Wilmersdorf getanzt werden.

Auf dem Tempelhofer Feld brauchen sich die Tänzer nicht vor den Ordnungshütern zu fürchten. Jens Stuller bleibt zwar nicht allein, jedoch lange der einzige Mann in einer Runde aus fünf Frauen, die nacheinander auf ihren Fahrrädern eintreffen. Stuller dreht die Musik auf. Seinen Laptop hat er an eine tragbare Musikanlage angeschlossen, aus den Boxen schallt traditionelle argentinische Tangomusik, aus der Baufolie wird kurzerhand eine Tanzfläche. Schnell ist klar: Die Anwesenden machen das nicht zum ersten Mal. Die Bewegungen sind souverän, die Schritte sicher.

Zwei Studentinnen aus Neukölln kommen auch ohne männliche Partner zurecht. „Frauen führen sowieso besser“, sagt eine von ihnen. „Hauptsache ich werde schön umarmt.“ Nur der Boden sei ungeeignet, beschwert sich eine andere. Die Folie bessere nicht alle Unebenheiten aus. „Ein richtiger Tangoboden muss rutschig sein, damit man sich drehen kann“, sagt sie. „Aber nicht so glatt, dass man darauf ausrutscht.“

Geradezu ideale Bedingungen bieten die historischen Kulissen in Berlins Mitte mit den glatten Steinböden und dem passenden Ambiente. „Überall in Berlin gibt es tanzverrückte Leute“, sagt Stuller. „Einmal waren wir 60 Menschen und haben in den Passagen vom S-Bahnhof Friedrichsstraße getanzt“, erzählt er. Auch im Stadtpark Steglitz hat Stuller, der in Lichterfelde wohnt, schon zum Tanzen eingeladen.

Die Veranstaltungen werden meistens nicht angemeldet. Da die Tänzer genauso schnell und unerwartet wieder verschwunden sind, wie sie auftauchen, toleriert die Polizei meist das Geschehen. „Nur am Potsdamer Platz gab es einmal Ärger“, sagt Stuller.

In der Szene mischen sich die verschiedensten Generationen. Seitdem Bands wie Gotan Project oder Otros Aires vor Jahren den Tango revolutioniert haben, indem sie die traditionelle Musik mit elektronischen Elementen vermischten, finden auch immer mehr junge Menschen zum Tango. Am besten sei eine gute Mischung aus klassischer Tangomusik und modernen Musikstücken, findet Irene Hoffmann aus Alt-Tempelhof, die sich selbst als „tangosüchtig“ bezeichnet. Viermal in der Woche geht sie zu Abendveranstaltungen.

In Pascal Keilmann trifft dann doch noch ein männlicher Tänzer ein. Der 39-Jährige kommt aus München und macht eine Woche Tangourlaub in Berlin. „Hier gibt es deutschlandweit die beste Tangoszene“, sagt er. Seine Wochenplanung hat er vollkommen darauf ausgerichtet. Am Sonntag war er im Tangoloft in Wedding, am Montag in der Strandbar in Mitte, am Dienstag im bebob, am Mittwoch im Roten Salon und am Freitag geht er ins Nou, einer Tanzschule in Mitte. Doch unter freiem Himmel Tango zu tanzen, sagt Keilmann, „ist das Schönste, was Berlin zu bieten hat“. Auch die Studentinnen aus Neukölln nehmen die schlechten Bodenbedingungen gern in Kauf, weil man bei den spontanen Treffs besser Leute treffen könne. Und natürlich wegen des Sonnenuntergangs.

Langsam ist es spät und dunkel geworden auf dem Tempelhofer Feld. Bevor die Sonne ganz untergeht, spielt Stuller noch ein letztes Musikstück; „Poema“ von Francisco Canaro. Sein letzter Tanz gehört Irene Hoffmann.

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