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Anna Basener: Die juten Sitten – Kaiserwetter in der Gosse. Audible Original Hörspiel. Download für 24,95 Euro unter www.audible.de.

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Ein Hörspiel über die Kaiserzeit: Von wejen jute Sitten

Vor fast 130 Jahren erschütterte ein Sexskandal das wilhelminische Berlin. Anna Basener hat ihn für Audible hörbar gemacht.

Dies sind die Wochen der ausgedehnten Waldspaziergänge, und eines der dabei gern angesteuerten, derzeit leider geschlossenen Ziele ist zweifellos das Jagdschloss Grunewald. Für die meisten Erholungssuchenden nur ein reizvoller Renaissancebau voll hochkarätiger Kunst, für sehr viel weniger Besucher aber zugleich der Ort einer halb vergessenen Orgie. Fast 130 Jahre liegt sie zurück, höchste Kreise des Hofes waren involviert – ein Skandal, der die wilhelminische Gesellschaft erschütterte und noch heute immer mal wieder ins öffentliche Bewusstsein zurückgeholt wird, vor zehn Jahren etwa durch ein Buch des Berliner Historikers Wolfgang Wippermann, nun durch ein Hörspiel von Anna Basener.

Wie Puffmutter Minna zu ihrem Bordell kam

Die Autorin hatte vor anderthalb Jahren bei Audible mit dem Hörspiel „Die guten Sitten – Goldene Zwanziger. Dreckige Wahrheiten“ einen Hit gelandet: eine um ein Berliner Bordell namens „Ritze“ kreisende Geschichte um Lust und Laster, historisch in enger Nähe zur TV-Serie „Berlin Babylon“ positioniert. Jetzt hat sie nachgelegt, nicht mit einer Fortsetzung, denn in den frühen Dreißigern war mit Lust und Laster bekanntlich bald Schluss.

Doch es blieb die Möglichkeit der Vorgeschichte: „Die juten Sitten – Kaiserwetter in der Gosse“. Puffmutter Minna (je nach Alter der Figur gesprochen von Ursula Werner und Janna Fritzi Bauer) hat die „Ritze“ 1935 verkauft, sucht einen Neubeginn in Paris und erzählt auf der gemeinsamen Reise dem Strichjungen Emil, wie sie, die kleine Arbeiterin aus Zilleschem Mietskasernenmilieu, vor 39 Jahren an ihr so erfolgreiches Etablissement gekommen war.

Erst die Orgie, dann das Duell

Ein auf erotischem Gebiet überaus fleißiger Herzog spielte dabei eine zentrale Rolle, weiter der kaiserliche Zeremonienmeister Leberecht von Kotze, den es unter diesem Namen tatsächlich gab. In den ums Jagdschloss Grunewald kreisenden Sexskandal war er maßgeblich verwickelt und beförderte sogar bei dem dadurch ausgelösten Ehrenhandel einen seiner Kontrahenten mit einem wohlgezielten Schuss in den Tod.

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Toll trieben es die alten Preußen, ist man gewillt zu sagen, deren moralische Verfehlungen aber nur einen Teil des lustvollen, nach Audible-Einschätzung für Hörer unter 18 Jahren ungeeigneten Sittengemäldes ausmachen.

Das von Anja Herrenbrück inszenierte Hörspiel läuft über acht Stunden, 18 Minuten, Zeit haben die Leute ja jetzt. Später können sie Minnas Geschichte auch nachlesen, beim Goldmann-Verlag liegt sie ab Ende Juni 2021gedruckt vor. Doch schon jetzt verbleibt das als „glamouröses und verruchtes Hörerlebnis“ angepriesene Hörspiel oft im Romanhaften, gleicht eher einem Hörbuch, wenn Minna ausführlich beschreibt, was um sie her gerade so geschieht, wie es dort aussieht, was sie tut und wie sie sich dabei fühlt – ein akustisches Zwitterwesen, das mit der mehr auf die Fantasie der Zuhörer setzenden Frühform des Hörspiels, etwa Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“, schon wegen seiner Länge wenig zu tun hat.

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