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Bestes Beispiel für misslungene Stadtentwicklung: Die Neubebauung des Potsdamer Platzes nach der Wende.

© Paul Zinken/dpa

Gentrifizierung: Warum Berlin das Schicksal von Popcorn droht

Die deutsche Hauptstadt floriert. Wird der Boom nicht vom Senat gesteuert, wird sie aber bald für viele unbezahlbar. Eine Kolumne.

Eine Kolumne von Werner van Bebber

Je mehr, desto besser: das ist die Ideologie der wachsenden Stadt. Die soll, das ist die neuste Entwicklung, in ihren Neubau-Vierteln gern aus „Typenbauten“ bestehen. Moderner Fertigteil-Bau, damit es schneller geht und nicht zu teuer wird: So könnte die Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt entspannt und der Konflikt zwischen Schon-hier-Berlinern und Demnächst-Berlinern gemildert werden.

Der Konflikt zieht sich messerscharf durch den Berliner Senat wie durch die wachsende Stadt. Für den Regierenden Bürgermeister Michael Müller bedeuten 40.000 zuziehende Neubürger jährlich, „dass wir uns finanziell und wirtschaftlich gut entwickeln. Und dass zum Beispiel Wissenschaft und Kultur gestärkt werden“. Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher nimmt angeblich den Mieterschutz und die Anwohnerinteressen bei der Planung von Neubauten so wichtig wie schnelle Baugenehmigungen. Das werfen ihr Kritiker aus der Baubranche vor.

An Michael Müllers Thesen kann man zweifeln oder verzweifeln

Tatsächlich kann man an Müllers Entwicklungsthese theoretisch zweifeln und praktisch verzweifeln. Der Dauerzuzug, im Senatsdeutsch freundlich „Wachstumsschmerzen“ genannt, hat etwas von der Wachstumsproblematik pubertierender Jugendlicher. Die Gelenke tun weh, und wenn es richtig hart kommt, hat man später Dehnungsstreifen. In Berlin sind, um im schiefen Bild zu bleiben, die Erwartungen vieler Schonhier-Berliner an Kita-Plätze, Schulen, die Verwaltung und eine gute Verkehrspolitik weit überdehnt.

Das ist der Preis für das Wachstum. Dafür kommen Bürger in der von Politikern am höchsten geschätzten Gestalt: als Steuerzahler. Und gewiss, in dem Punkt kann man dem Regierenden sogar folgen, erhöht sich bei massivem Zuzug die Chance, dass unter den Jetzt-endlich-auch-Berlinern ein Start-up-Genie ist, das hier das stets erwartete nächste große Ding in Bewegung bringt, fliegende ÖPNV-Drohnen zum Beispiel, damit die nervenden Radfahrer da unten auf ihren Radwegen endlich Ruhe geben. Oder eine intelligente Baustellen-Planung. Oder von künstlicher Intelligenz gesteuerte Genehmigungsroboter für die Bauämter.

Das wäre eine optimistische Lesart der Ideologie der wachsenden Stadt. Die pessimistische Variante zeigt sich heute schon in anderen Städte, in Venedig zum Beispiel. Jährlicher massiver Fortzug, weil viele Venetianer die touristische Überbelastung nicht mehr ertragen. Die mythische, einzigartige Stadt geht an sich selbst zugrunde. Genauer: an der Unfähigkeit der Politik, die Entwicklung zu steuern. Je mehr, desto schlechter.

Die Attraktivität einer Stadt kann sie erfolgreich machen – ganz sicher macht Attraktivität eine Stadt teurer. Siehe Berlin. Siehe London. Siehe Paris. Siehe New York. Kann man sich als Student oder Jung-Künstler vorstellen, nach New York zu ziehen, in diese gefährliche, spannende, zerrissene, von schrägen Vögeln bevölkerte Stadtmaschine? Kann man nicht. Denn diese Stadt, die man sich vor dreißig, vierzig Jahren als Student hätte leisten können, gibt es nicht mehr. Für die meisten anderen, sich selbst preisenden und feiernden Mythos-Metropolen gilt das gleiche.

Wie man den Berliner Attraktivitäts-Boom steuert, scheint Müller so wenig zu wissen wie Lompscher. Der Berlin-Hype, den die Politiker oft und gern noch höher geredet haben, hat nicht bloß Start-up-Genies angezogen, sondern auch schnöde Investoren und Projektentwickler. Es geht in Berlin ums Geld, und damit tun sich Leute schwer, die die Stadt noch aus ärmlicheren Zeiten kennen.

Entwicklungen können abrupt die Richtung wechseln

Womöglich aber führt das Dauergerede über die wegen ihrer Attraktivität wachsenden Stadt mit ihren Wachstumsschmerzen gar nicht in die Vier-Millionen-Metropole. Entwicklungen können die Richtung wechseln. Es gibt die schöne Theorie vom „tipping point“. Das ist er Punkt, an dem eine Entwicklung eine neue Richtung nimmt oder stark beschleunigt wird. Das Internetlexikon Wikipedia nennt als schönes Beispiel die Produktion von Popcorn: man erhitzt das Öl, in dem die Maiskörner liegen, dann passiert lange nichts – und plötzlich, bei etwas über 160 Grad Celsius, ploppen sie auf und werden zu Popcorn.

Auf vergleichbare Weise könnte der Hype um die Hauptstadt an sich selbst scheitern, wenn sich herumspricht, dass die Stadt vor allem teuer und außerdem zu voll geworden ist, um ein angenehmes Lebensgefühl zu ermöglichen. Bei dem Tempo, in dem die Mieten steigen, möchte man wetten: der tipping point für Berlin kommt, bevor dieser Flughafen da draußen fertig ist.

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