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Stilles Gedenken auf dem Berliner Breitscheidplatz.

© imago/epd/Christian Ditsch

Weihnachtsmarkt-Anschlag in Berlin: „Die Opfer sind und werden nicht vergessen“

Der Terror vom Breitscheidplatz ist auch nach drei Jahren nicht verarbeitet. Über Lehren aus dem Anschlag spricht Berlins Opferbeauftragter im Interview.

Von Sandra Dassler

An diesem Donnerstag wird auf dem Breitscheidplatz wieder der Opfer des Anschlags vor drei Jahren gedacht. Zwölf Menschen starben damals, viele wurden verletzt. Roland Weber ist seit 2012 Berlins erster Opferbeauftragter. Der gebürtige Stuttgarter hat an der FU Berlin studiert, ist seit 1999 Rechtsanwalt und seit 2009 Fachanwalt für Strafrecht.

Herr Weber, niemand will es sich vorstellen – aber wäre Berlin heute besser vorbereitet, wenn es erneut zu einem Terroranschlag kommen würde?
Ganz klar, ja. Wir haben in Berlin seit eineinhalb Jahren die Zentrale Anlaufstelle für Opfer von Terroranschlägen und Großschadensereignissen und deren Angehörige. Mit ihr wurde ein Netzwerk geschaffen, in dem sich die Mitwirkenden oft auch persönlich kennen, weil sie sich regelmäßig zum Austausch treffen. Da werden auch die Handynummern ausgetauscht, das vereinfacht ja vieles. So chaotisch wie vor drei Jahren würde es heute nicht mehr zugehen. Damals wurden vor allem durch die überforderten Behörden viele Fehler begangen, aber man hat daraus gelernt. Heute würden sich die Opfer nicht mehr so alleingelassen fühlen.

Was macht Sie so sicher, dass das im Ernstfall funktioniert?
Es gab bereits einige Situationen, wo anfangs nicht klar war, ob es sich um einen Anschlag oder einen Unfall handelte. Da wurden die Systeme sofort professionell hochgefahren: von Polizei, Feuerwehr, Krankenhäusern, Notfallseelsorge bis hin zur Senatsverwaltung, gesetzlicher Unfallkasse oder diversen Hilfsorganisationen und den Trauma-Ambulanzen. Künftig kommen noch die Fallmanager hinzu. Die beiden Letzteren gehören übrigens zu den sogenannten schnellen Hilfen, die laut Gesetzentwurf zur Neuregelung des sozialen Entschädigungsrechts eingeführt werden: Opfer erhalten Anspruch auf Leistungen in Trauma-Ambulanzen.

Was hat es mit den Fallmanagern auf sich?
Alle Bundesländer sind verpflichtet, bis 2024 solche Stellen für besonders geschulte Helfer zu schaffen, die Betroffene von Anfang an begleiten, damit sie nicht von einer Stelle zur anderen verwiesen werden. Gut ist auch, dass man inzwischen proaktiv auf Opfer zugehen kann.

Was bedeutet das?
Bisher wurden Opfer zwar über die Möglichkeit informiert, Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber viele nahmen das im ersten Schock gar nicht richtig wahr. Künftig kann man Betroffene unterschreiben lassen, dass die entsprechende Service-Stelle beziehungsweise der Fall-Manager sie später anrufen kann.

Damit ist dem Datenschutz Genüge getan?
Ja. Ich bin angesichts aller Erfahrungen sicher, dass dadurch viel mehr Menschen als bisher geholfen wird. Und ich hoffe sehr, dass das Abgeordnetenhaus in diesen Tagen die Mittel für die Service-Stelle bewilligt. Auch weil das eben nicht nur den Opfern von Terroranschlägen zugutekommt, sondern vielen anderen, denen leider kaum Aufmerksamkeit zuteil wird.

Roland Weber ist Berlins Opferbeauftragter.
Roland Weber ist Berlins Opferbeauftragter.

© Doris Spiekermann-Klaas/Tsp

Sie denken beispielsweise an die Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch?
Richtig. Es gibt so viele Frauen, die das betrifft. Und Kinder. Jedes Jahr Hunderte von Fällen. Von denen erfahren wir nichts, weil sie sich im Familien-, Verwandten- und Freundeskreis zutragen. Oder weil sie aus Jugendschutzgründen nicht öffentlich verhandelt werden. Aber viele dieser Betroffenen wissen nicht, was sie tun sollen.

Weil sie überfordert sind?
Ja. Und oft in ihrer Situation nicht mehr klar denken können. Ich erinnere mich beispielsweise an eine Mutter, der ihre fünfjährige Tochter beleidigt erzählte, dass ihre etwas ältere Schwester immer beim Onkel im Bett schlafen dürfe und sie nicht. Die Frau war völlig geschockt und wusste gar nicht, was sie tun sollte. Zum Glück half ihr eine gute Freundin. Für solche Fälle braucht man Fallmanager und Service-Stellen. Später möglichst auch psychosoziale Prozessbegleitung.

Wird die nicht oft durch Staats- oder Rechtsanwälte übernommen?
Aber die können das gar nicht in dem Ausmaß leisten und sind oft auch nicht entsprechend geschult. Durch den Anspruch auf psychosoziale Prozessbegleitung werden hoffentlich weitere Sozialarbeiter entsprechend ausgebildet. Bislang gibt es in Berlin vier Frauen, die das tun. Sie leisten ungeheuer wertvolle Arbeit.

Haben Sie einen speziellen Fall vor Augen?
Ich denke an eine Frau, die Ärztin ist und ihre Schwester, die Opfer einer Straftat wurde, nicht retten konnte. Sie war schwer traumatisiert, konnte kaum noch arbeiten, wollte aber – um ihrer Schwester willen – das Gerichtsverfahren verfolgen. Das schaffte sie jedoch nicht ohne Unterstützung. Ihre psychosoziale Prozessbegleiterin machte das ganz toll.

Sind Opfer von Terror- und Gewalttaten durch den neuen Gesetzentwurf auch finanziell besser abgesichert?
Ja. Sie erhalten unter anderem mehr Hilfen bei Therapien und bessere psychotherapeutische Leistungen. Außerdem wurden die leistungsunabhängigen monatlichen Grundrenten und die einkommensabhängigen Leistungen für Opfer, Angehörige und Hinterbliebene erhöht.

Kennen Sie schon konkrete Zahlen?
Beispielsweise steigen die einkommensunabhängigen monatlichen Grundrenten bei Halbwaisen von 132 auf 390 Euro, bei Vollwaisen von 249 auf 610 Euro und bei Witwen und Witwern von 472 auf 1055 Euro. Außerdem wurde die Soforthilfe, also die pauschale Entschädigung aus den Härtefallfonds für hinterbliebene Ehegatten von 10 000 auf 30 000 Euro verdreifacht. Hinterbliebene Geschwister erhalten 15.000 statt wie bisher 5000 Euro und hinterbliebene Kinder zwischen 25.000 und 45.000 statt wie bis 2018 zwischen 10.000 und 16.000 Euro.

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Haben sich auch die Leistungen für direkt Betroffene verbessert, die durch physische oder psychische Verletzungen Nachteile im Berufsleben in Kauf nehmen müssen?
Ja, Verletzte von Terroranschlägen können da bis zu 20.000 Euro erhalten statt bisher 7500 Euro.

Was ist mit den umstrittenen Härtefall-Leistungen aus dem Topf des Bundesministeriums für Justiz? Opfer vom Breitscheidplatz hatten kritisiert, dass darauf kein Rechtsanspruch besteht...
Das ist immer noch so, die Materie ist aber auch sehr kompliziert. Es bleibt dabei, dass die Zahlung oder Verweigerung dieser Leistungen nur nach den Maßstäben bisheriger Entscheidungen gerichtlich überprüft werden kann.

Was ist mit den Bestattungskosten?
Auch die sind erhöht worden, und zwar generell für die Opfer vorsätzlicher Straftaten, nicht nur bei Terrorakten. Ganz wichtig ist auch, dass ausländische Opfer jetzt den deutschen gleichgestellt sind.

Sind Sie auch mit der Arbeit des Untersuchungsausschusses zum Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz zufrieden?
Nein. Ich kann diese Arbeit zwar fachlich nicht wirklich beurteilen. Allerdings hatte ich gehofft, dass das alles etwas schneller geht. Nach mehr als eineinhalb Jahren sind die Ergebnisse doch recht ernüchternd – obwohl es ja schon einschlägige Erfahrungen mit ähnlichen Untersuchungsausschüssen gibt.

Es findet am Donnerstag wieder eine Gedenkfeier statt. In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Vorwürfe laut, dass die Opfer zu wenig gewürdigt werden ...
Ich weiß. Viele haben damals kritisiert, dass es keinen großen Staatsakt gab. Aber die Opfer sind und werden nicht vergessen, davon bin ich überzeugt. Außerdem sind viele ihrer zentralen Forderungen durch die Reform des Entschädigungsrechts umgesetzt worden. Auch wenn Geld niemanden wieder lebendig macht, so kann es doch Menschen bei der Heilung oder wenigstens bei der Linderung erlittener Verletzungen helfen.

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