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Auf dem alten Todesstreifen am Potsdamer Platz, wo ein Dreivierteljahr zuvor noch die DDR-Grenzer patroullierten, feierten 320 000 Fans die Live-Aufführung des Pink-Floyd-Albums „The Wall“

© oFoto:Wlfgang Kumm/ dpa

30 Jahre nach legendärem Roger-Waters-Konzert: Welch ein Ort, welch ein Abend!

Vor 30 Jahren lockte Roger Waters von Pink Floyd 320.000 Fans zur Rock-Oper „The Wall“ auf den Potsdamer Platz. Ein Spektakel, das bis heute unvergessen ist.

Monatelang war das Megaspektakel vorbereitet worden, über Wochen hatten 150 Arbeiter die 200 Meter breite Bühne zusammengeschraubt. Rund 320.000 Fans waren gekommen, und unzählige warteten weltweit vor ihren Fernsehern auf das Konzert der Superstars. Doch dann das: Stromausfall beim zweiten Song, tote Mikrophone, kein Duett mit Rogers Waters und Ute Lemper.

Möglich, dass sie tapfer weitergesungen haben, zu hören war nichts, und der immerhin manchem bekannte Text von „The Thin Ice“ bekam unerwarteten metaphorischen Nebensinn: „Don’t be surprised when a crack in the ice appears under your feet.“

In der TV-Aufzeichnung des „The Wall“-Konzerts vom 21. Juli 1990 am Potsdamer Platz, im Internet leicht zu finden, ist die Panne spurlos behoben. Möglich, dass man Aufnahmen vom Probedurchlauf des Vorabends hineingemogelt hat.

Der Abend lief ohne weitere Störung ab, nur für die gute Ute blieb es ein Desaster. Anders als angekündigt wurde der Song später nicht nachgeholt. Das wäre schon dramaturgisch unmöglich gewesen.

Die echte Mauer gab den Hintergrund zu "The Wall"

Welch ein Ort, welch ein Abend! Die echte Mauer als authentischer Hintergrund von „The Wall“, der rockopernhaften Aufführung des gleichnamigen legendären Albums von Pink Floyd, samt Aufbau und Abriss einer zugegeben nur aus Styroporblöcken geformten Mauer, doch haushoch, die Berliner Mauer ein Winzling dagegen. Und all dies für einen guten Zweck, als Benefizkonzert zugunsten eines hierzulande freilich unbekannten „World War Memorial Fund for Disaster Relief“, bei Gagenverzicht der Stars.

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Schon 30 Millionen Schallplatten waren damals von „The Wall“ verkauft worden. Erst viermal war das auch verfilmte Album, an dem Roger Waters als ehemaliger Kopf von Pink Floyd und Schöpfer der meisten Songs die Rechte besaß, konzertant aufgeführt worden.

Das fünfte Mal sollte in Moskau auf dem Roten Platz stattfinden, aber dann fiel die Berliner Mauer und Leonard Cheshire, hochdekorierter Bomberpilot im Zweiten Weltkrieg und Gründer der Wohltätigkeitsorganisation, rief ihn an: „Wir müssen nach Berlin – jetzt!“ – so hat es Waters später dem Tagesspiegel erzählt. Schon am nächsten Morgen seien sie nach Berlin geflogen. „Im Zentrum, in diesem Niemandsland, sind wir an eine kleine Lücke in der Mauer getreten und haben auf die öde Brache geschaut und ich meinte sofort: ,Wir müssen es hier machen, genau hier!’“

Schon lange vor Konzertbeginn hatte sich der noch öde Platz mit den Menschenmassen gefüllt (im Hintergrund die Styropormauer).
Schon lange vor Konzertbeginn hatte sich der noch öde Platz mit den Menschenmassen gefüllt (im Hintergrund die Styropormauer).

© Peter Kneffel/dpa

Ein aus heutiger Sicht verwegener Entschluss, schließlich lag der Konzertort auf dem Gebiet gleich zweier Staaten und zweier Stadtverwaltungen. Aber in den mitunter chaotischen Monaten nach dem Mauerfall ging das. Damit das bei der ersten Gesamtberliner Silvesterfeier ramponierte Brandenburger Tor nicht endgültig zu Bruch ging, wurde ein Aufbau der Bühne südlich des heutigen Holocaust-Mahnmals vereinbart. Das Publikum sollte sich auf der Freifläche bis zum Potsdamer und Leipziger Platz versammeln, einschließlich des 1988 durch Gebietsaustausch zu West-Berlin gekommenen Lenné-Dreiecks.

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An sich hat „The Wall“ mit Beton- oder Ziegelsteinmauern wenig zu tun, der Titel des bekanntesten Songs „Another Brick in the Wall“ ist da irreführend. The Wall, das ist die Mauer im Kopf, die imaginäre Grenze, mit der Pink, der traurige, zu Selbstmitleid neigende Held der Geschichte, sich mehr und mehr umgibt. Der Vater gefallen, die Mutter von maßloser Fürsorglichkeit, der Lehrer ein Monster, die Ehefrau ein Luder und der Rest der Welt auch nicht besser – ein Hundeleben, vor dem sich Pink zuletzt in wüste Fantasien von faschistoidem Führertum flüchtet, bis über ihn Gericht gehalten und die Mauer – „Tear down the wall!“ – niedergerissen wird.

Die Liste der Stars reiche von Cyndi Lauper bis Van Morrison

Anfang Juni begann der Vorverkauf, einen Monat später waren 100.000 Tickets zum Preis von 41 D-Mark verkauft, obwohl erst jetzt die beteiligten Stars bekannt gegeben wurden, eine imponierende Liste: als Vorprogramm unter anderem The Hooters, beim Haupt-Act Ute Lemper eben, Cyndi Lauper, Joni Mitchell, Bryan Adams, Mick Jaggers Damalige Jerry Hall, Sinéad O’Connor, Van Morrison, die Scorpions, Marianne Faithfull und andere mehr, das Ensemble verstärkt durch das Rundfunk-Sinfonieorchester und den Rundfunkchor aus Ost-Berlin sowie eine Kapelle der sowjetischen Armee.

Bis zu 500 Personen auf der Bühne waren angekündigt, dazu zwei Helikopter in der Luft. Als Produktionskosten wurden 7,5 Millionen Dollar genannt, eine Riesenshow, die sich das Fernsehen nicht entgehen lassen konnte: Das ZDF brachte zwei Ü-Wagen und 14 Kameras in Stellung, wollte nur zeitversetzt senden, anders als 3sat. Auch Österreich, die Schweiz und der Deutsche Fernsehfunk sowieso waren mit im Boot, per Satellit wurden Südamerika, Japan, Israel bedient.

Leidensmann und Diktator. Roger Waters, Ex-Frontmann von Pink Floyd und Initiator des Konzerts, hatte die Hauptrolle der Figur Pink übernommen.
Leidensmann und Diktator. Roger Waters, Ex-Frontmann von Pink Floyd und Initiator des Konzerts, hatte die Hauptrolle der Figur Pink übernommen.

© Wolfgang Kumm/ dpa

Wenige Tage vor dem Tag der Tage meldeten die Veranstalter das Konzert als ausverkauft, die Angaben über die verkauften Tickets schwankten zwischen 150 000 und 180 000. Überwiegend gingen sie an die deutschen Fans, dazu gab es starke Kontingente aus den Niederlanden, Großbritannien, Skandinavien, Belgien, den USA, Frankreich und Italien, selbst aus Japan und Australien wurden Besucher erwartet. Da wurden die Hotelbetten knapp, das Verkehrsamt bat händeringend um Notquartiere.

Die West-Berliner Polizei hatte mit 180.000 Schaulustigen gerechnet und 400 Beamte geschickt, die Volkspolizei 1100 zum Festplatz und weitere 500 in dessen Umkreis – eine weise Entscheidung: Die Show sollte gegen 22 Uhr beginnen, doch die Massen waren bereits seit dem frühen Nachmittag, lange vor dem Start des Vorprogramms, auf den ehemaligen Todesstreifen geströmt.

Kurz nach 19 Uhr hatten sich 200.000 Fans versammelt, wenig später gab es erstes Gerangel am Zaun, Versuche, ihn zu überklettern. Um Chaos, womöglich Panik zu verhindern, wurden die Tore geöffnet, sodass zuletzt rund 320.000 Fans das Riesenareal vor der Bühne füllten, mit allen Folgen, die solch eine überhitzte Menschenmasse in einer wohltemperierten Sommernacht mit sich bringt: Rund 700 Mal mussten die entsandten Rotkreuz- Helfer schon vor Konzertbeginn tätig werden, danach war es weit über das Doppelte, Schwächeanfälle, Bein- und Augenverletzungen, ein Herzinfarkt. Besonders vorne an der Bühne herrschte qualvolle Enge, mehrfach wurde die Masse über Lautsprecher ermahnt.

Hinten haben die Fans vom Konzert nur wenig mitbekommen

Und das Konzert? Bombastisch, pompös, wie von Pink Floyd gewohnt, aber viel haben die Fans im hinteren Bereich, bei der noch nicht sehr ausgereiften Videotechnik, nicht mitbekommen. Die ersten Abwanderungen registrierte die Polizei zur Halbzeit, da war es noch möglich, rechtzeitig den Fernseher zu erreichen.

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Und dabei hatten Roger Waters und seine Truppe doch alles aufgeboten, was showtechnisch damals möglich war. Gleich zu Beginn griffen Scheinwerfer den Himmel ab, fahle Zeigefinger des Todes, die kreisten, sich kreuzten, die Nacht in dunkle Segmente zerlegten. Noch klafften riesige Lücken in der bleichen Mauer, später wucherte sie zu, zur kolossalen Videowand voll flimmernder Graffiti, fast wie die echte Mauer – eine aus Styropor geformte Projektionsfläche diffuser Gefühle, die so bedrohlich und doch belanglos daherrollten wie die pompöse Musik, eine bedeutungsschwangere Nummernrevue des Selbstmitleids.

Klar, dass da Klaus Meine und die Scorpions zum Showstart nicht einfach auf die Bühne gestiefelt kommen konnten, sondern in einer weißen Stretchlimousine vorgefahren wurden, farblich ein guter Kontrast zu dem blutigen Rot, das bald die fahle Wand überschwemmte, zu giftigem Grün und Blau umkippte, den Farben des Lehrers. Riesig quoll dazu der „Teacher“ über den Mauerrand, blähte sich auf zum ekligen Ballon, aus dem Scheinwerferaugen stierten, tastete mit dürren Kreidefingern nach Pink, dem armseligen Helden, dargestellt von Roger Waters himself, erst Leidensmann, später ordenbehängter Diktator.

Die Mauer bröckelt.
Die Mauer bröckelt.

© dpa

Auch zogen projizierte Kreuze durch die Nacht wie Bomberschwärme, mutierte die Friedenstaube zum Geier, der Fetzen aus der Erde riss, und zwei Rosenknospen, die sich gerade noch voller Romantik umspielten, durchbohrten sich in brutalem Liebesakt. Selbst der Union Jack zerfiel, zurück blieb ein blutiges Kreuz, während die Gitarren donnerten.

Geradezu eine Erholung für Auge und Ohr war es da, wenn zarte Wesen wie Joni Mitchell oder Sinéad O’Connor die Bühne betraten. Ein Höhepunkt auch Van Morrison, der mit seiner Wahnsinnsstimme „Comfortably Numb“ in den Berliner Himmel röhrte.Klaus Meine dagegen durfte zu „Run Like Hell“ nur das Tamburin schütteln und herumhüpfen, während Roger Waters Pinks faschistoide Fantasien in die Menge bellte.

Später sah Roger Waters "The Wall" immer politischer

Das aufgeblasene Schwein, mehr ein tollwütiger Eber, der dazu über die Mauer lugte, trug nur die gekreuzten, entfernt ans Hakenkreuz gemahnenden Hämmer der Massenbewegung Pinks. Damals deutete Roger Waters die Story um seinen traurigen Rockstar noch als „autobiografische Übung“, wie er 20 Jahre später, mit Blick auf seinen zweiten Berliner „The Wall“-Auftritt im Sommer 2011, dem Tagesspiegel sagte. Da hatte er schon eine „universellere, politischere“ Version im Blick, sah Pink als „eine Allegorie, wie Nationen handeln“, die Mutter etwa als „Symbol der Regierung“, die ihre Kinder dumm und unabhängig halte:

Leider fand Waters bei der Politisierung des Stoffes kein Ende, was ihm bei der dritten Berliner Aufführung von „The Wall“ im Sommer 2013 im Olympiastadion viel Kritik angesichts einer sehr missverständlichen Symbolik einbrachte. Das Schwein glotzte nicht mehr nur über die Mauer, sondern schwebte über den 33 000 Zuschauern, nun dekoriert mit Hammer und Sichel, Dollar-Zeichen, Shell-Muschel, Kreuz, Halbmond – und Davidstern.

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