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Wie es ist, mit alten Eltern aufzuwachsen : „Sind das deine Eltern oder deine Großeltern?“,
Die Eltern unserer Autorin waren wesentlich älter als die ihrer Mitschüler. Wie es sich anfühlte, quasi mit einer anderen Zeitrechnung aufzuwachsen.
Stand:
Es war Mitte der Achtziger, ich war ein Schulkind und der Zweite Weltkrieg war in unserer kleinen Küche manchmal sehr präsent. An manchen Abenden begann mein Vater zu erzählen, von damals. Von Bomben und dem roten Schein über Hamburg, wenn die Stadt nach Luftangriffen brannte. Meine Mutter warf dann oft auch etwas über den langen Weg zum Luftschutzbunker ein, den sie meist gerannt war. Mein Vater war 21 als der Krieg endete, meine Mutter 13.
Erst Jahrzehnte später lernten sie sich kennen und wurden meine Eltern.
„Sind das deine Eltern oder deine Großeltern?“, die Frage hörte ich wieder von anderen Kindern. Manchmal habe ich mich dann im ersten Moment etwas geärgert. Aber eigentlich fand das nicht so schlimm.
Meine Mutter war 44, als sie mich 1976 zur Welt brachte, mein Vater 52. Was für heutige Verhältnisse nur noch mittelmäßig ungewöhnlich ist, galt in den Siebzigern als so abwegig, dass der Gynäkologe meiner Mutter zunächst nicht darauf kam, dass sie ein Baby im Bauch haben könnte, und stattdessen einen Tumor oder eine Zyste vermutete. Das Durchschnittsalter für Erstgebärende lag bei etwa Mitte 20. Erst die Krankenschwester kam auf die Idee, einen Schwangerschaftstest zu machen. Das war eine immer gern erzählte Familien-Anekdote. Ich fand sie auch lustig.
Zwar hatte ich keine Großeltern und vermisste sie unbekannterweise. Aber ich wusste mir zu helfen: Ich adoptierte einfach regelmäßig irgendwelche älteren Frauen als Omas, etwa Nachbarinnen und Ferienbekanntschaften. Problem gelöst.
Mein Vater hat seinen Enkel nie kennengelernt
Als mein Vater mit 80 starb, war ich 28. In den letzten zwei Jahren seines Lebens hatte ich ihn im Pflegeheim besucht. Ich vermisse ihn. Und ich finde es schade, dass er seine Enkel nie kennengelernt hat. Aber so etwas passiert auch Kindern von jüngeren Eltern.
Und doch hat es mich sehr geprägt, mit alten Eltern aufzuwachsen.
Es waren die neunziger Jahre, ich war 16 und wollte in die Disko. „Sag mal, so rein theoretisch, wenn ich mal am Samstagabend ausgehen möchte, wann müsste ich dann zu Hause sein?“, fragte ich meine Mutter. Sie selbst sei damals in den Fünfzigern ja immer nachmittags zum Tanztee gegangen – von fünf bis acht, antwortete sie allen Ernstes. Ich hatte so etwas erwartet, ließ das Fragen sein und stieg stattdessen aus dem Fenster unserer Erdgeschosswohnung, als meine Mutter im Bett war.
Meine Mutter verbrachte mehr Zeit im Luftschutzkeller als beim Spielen
Was mir erst vor Kurzem klar wurde: Die Anekdote ist eins von vielen Puzzleteilen der Erklärung, warum ich mich immer anders und fremd fühlte zwischen Gleichaltrigen. Überall außerhalb meines Elternhauses. Bei uns nämlich herrschte eine Art andere Zeitrechnung – die meiner Eltern. Es war ein Spagat zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Dazu gehörten harmlose Details wie der altmodische Musikgeschmack meiner Eltern.
Und weniger harmlose wie die meiner Mutter, dass Kinder sich unterzuordnen und gehorchen sollten. Dass sie den Eltern dankbar zu sein hatten für ihre Existenz, für ein Bett und Essen. Egal wie sich die Eltern ihnen gegenüber benahmen.
Aber vor allem war die Zeit des Krieges in unserer Familie überpräsent. Meine Mutter erzählte von Bombennächten im Keller und im Luftschutzbunker. Dort verbrachte sie in ihrer Kindheit mehr Zeit als beim Spielen.
Mein Vater berichtete, wie ihm als Soldat in Griechenland ein Finger abgeschossen worden war und wie er die letzte Nacht vor Kriegsende in einem brennenden Eisenbahnwaggon erlebt hatte.
Meine Eltern waren sich in ihrer Silvester-Abneigung einig. Wir blieben grundsätzlich im sicheren Wohnzimmer. Beide hatten ein Problem mit Feuerwerk. Es erinnerte sie an die Bombennächte des Zweiten Weltkriegs.
Die Eltern der anderen waren Hippies, ich dagegen ein Kriegsenkel
Die Eltern meiner Mitschüler waren eine ganze Generation jünger. Meine Mitschüler kannten Krieg nur aus den Erzählungen der Großeltern, nicht der eigenen Eltern. Ich fühlte mich anders, doch die Gründe dafür verstand ich erst später.
Für mich blieb dieses Gefühl lange diffus – bis ich auf den Begriff „Kriegsenkel“ stieß: „Kriegsenkel sind Menschen, deren Eltern die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg als Kinder und Jugendliche erlebt haben und bis heute – oft unbemerkt – unter dem Eindruck von traumatischen Erfahrungen stehen. (...) Kriegsenkel gehören in Deutschland in der Regel den Jahrgängen 1960–1975 an“, heißt es auf der Webseite www.kriegsenkel.de. Ich bin 1976 geboren – und gehöre trotzdem dazu. Erst als mir das klar wurde, hatte ich das Gefühl, dass die Puzzleteile sich zu einem Bild zusammenfügten.
Auch wenn es bei mir und meinen Eltern etwas Besonderes war, weil sich die Welt in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg so fundamental geändert hatte, gilt auch für andere Generationen mit alten Eltern: Die Lebenswirklichkeiten von Eltern und Kindern klaffen oft weiter auseinander als in anderen Familien.
Ich finde es nicht schlimm, alte Eltern zu haben. Aber ich denke, es hilft allen Beteiligten, wenn man sich die Besonderheiten klarmacht. Und darüber nachdenkt, was sie mit der jeweiligen Familie anstellen. Vielleicht fühlen sich dann einige Kinder später weniger fremd in ihrer eigenen Zeit.
Auch ich bin als Mutter nicht ganz früh dran. Mein erstes Kind wurde geboren, als ich 36 Jahre alt war. Was, wie ich hoffe der größte Unterschied zu meiner eigenen Mutter ist: Ich gebe mir Mühe, zu verstehen, was es mit Dingen auf sich hat, die es in meiner Kindheit noch nicht gab, und die ihn interessieren: Brawlstars, Pokémon und K-Pop zum Beispiel. Auch wenn mir nicht alles nicht unbedingt gefällt.
Meine Mutter wollte zeitlebens nicht verstehen, was „dieser Emil“ ist. Damit meinte sie E-Mails.
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