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Sergey Lagodinsky ist russisch-jüdischer Herkunft und sitzt seit 2019 für die Grünen im Europaparlament.

© imago/Jürgen Heinrich

Grünen-Politiker Lagodinsky über „Indianerhäuptling“-Debatte: „Wir dürfen die Menschen nicht nur belehren“

Sergey Lagodinsky sitzt für die Grünen im Europaparlament. Im Interview spricht er über die mangelnde Diversität in seiner Partei und den Umgang mit thematischen Minenfeldern. 

Die Berliner Grünen mussten sich jüngst mit zwei Kontroversen beschäftigen. Auf dem Landesparteitag Ende März hatte Spitzenkandidatin Bettina Jarasch auf die Frage, was sie als Kind werden wollte, mit „Indianerhäuptling“ geantwortet. 

Es gab Kritik, sie entschuldigte sich dafür. Kritik gab es außerdem an der Liste für den Bundestag, auf der nur zwei Personen mit Migrationshintergrund stehen – und das obwohl sich die Partei verordnet hatte, den Anteil diskriminierter Gruppen in den eigenen Reihen zu erhöhen.

Sergey Lagodinsky, 45, ist Mitglied der Berliner Grünen und sitzt für die Partei seit 2019 im Europa-Parlament. Er war bis 2011 Mitglied der SPD und ist russisch-jüdischer Herkunft. Im Interview spricht er über mangelnde Diversität in seiner Partei und Debatten über Identitätspolitik.

Herr Lagodinsky, darf man das Wort „Indianerhäuptling“ im Jahr 2021 noch benutzen?
Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich würde diesen Begriff nicht nutzten. Das liegt aber auch an meinem Hintergrund: Ich bin sehr transatlantisch geprägt, ich habe in den USA studiert.

Was hat das mit ihrer Haltung zu dem Wort zu tun?
In den USA hat dieser Begriff schon länger einen anderen Kontext als in Deutschland. Die Menschen dort haben andere Vorerfahrungen in der Debatte. Viele Nationen haben ja ihre traumatischen und genozidalen Erlebnisse und in den USA ist das eben der Umgang mit der indigenen Bevölkerung. Die Nachfahren wollen sich nicht mit dem Begriff Indianer bezeichnen lassen. Ich respektiere das. Jeder, der Sensibilität gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe zeigen möchte, kann das für sich genauso entscheiden.

Den Berliner Grünen wird gerade Zensur der Spitzenkandidatin Bettina Jarasch vorgeworfen. Sie hatte das Wort auf einem Parteitag in Erinnerung an ihre Kindheit gesagt, die Stelle wurde im Video gelöscht. Können Sie die Aufregung verstehen?
Von Zensur kann keine Rede sein. Wenn überhaupt geht es darum, eigene Beiträge auf eine Art zu verbreiten, mit der man sich wohlfühlt. Alle sollten mal die Kirche im Dorf lassen. Allerdings kann ich die Nachdenklichkeit darüber verstehen.

Inwiefern?
Der Vorfall wirft die Frage auf, inwiefern wir einerseits innerhalb der Partei solche Fragen diskutieren und welche Freiräume wir uns dafür nehmen. Andererseits müssen wir uns überlegen, wie wir als Partei bei diesen schwierigen identitätspolitischen Fragen in die Gesellschaft hinein kommunizieren. Viele von uns tragen ja berechtigte, auch sprachliche, Tabus mit sich herum. 

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Manchmal leiten wir Grünen aus den Maßstäben, die wir an uns selbst anlegen, zu schnell moralische Ge- und Verbote ab. Die müssen dann unbedingt und ohne Widerrede eingehalten werden. Wir brauchen aber ein Recht auf Irrtum und ein Recht auf Fehler. Da fehlt uns manchmal die Geduld.

Wen meinen Sie mit „uns“? Die Grünen?
Ja, aber auch Minderheiten generell – wie mich selbst. Ich habe gelernt, mit Menschen zu reden, die Worte sagen, bei denen ich denke: Wow, das geht nicht. Als jüdischer Mensch bin ich häufig damit konfrontiert. Für mich persönlich habe ich einen Modus gefunden, dass ich Menschen erstmal einen Vertrauensvorschuss gebe. Ich versuche, ins Gespräch zu kommen, ich will nachvollziehen, woher Vorurteile kommen, woher das Unvermögen kommt, nachzuvollziehen, warum mich etwas verletzt. Das ist das, was wir brauchen: eine Art „Respect New Deal“. Es bringt nichts, sich gegenseitig vorzuschreiben, wie man miteinander umgehen darf. Wir müssen darüber einen Dialog führen. Das darf keine Anklage sein.

Nun ist das Löschen von Worten, wie es die Grünen getan haben, selten eine Art, in den Dialog zu kommen.
Darüber möchte ich nicht urteilen. Wichtig ist mir: Die Grünen sind keine Klientelpartei mehr. Wir begeistern heute Menschen in vielen Gesellschaftsschichten, die uns wegen unserer Programmatik wählen. Wir dürfen diese Menschen aber nicht nur belehren.

Wie stellen Sie sich konkret das vor? Soll nett darum gebeten werden, nicht mehr Indianerhäuptling zu sagen?
Wir müssen Befindlichkeiten besser erklären. Und andererseits dürfen wir uns nicht nur an der Sprache aufhängen. Stattdessen müssen wir auf Empowerment und Partizipation hinarbeiten. Wir müssen die Realität ändern und nicht nur die Worte, die sie beschreiben. Wir haben den Auftrag, eine Wirklichkeit zu schaffen, in der Minderheiten aus verschiedenen Milieus genauso teilhaben können wie alle anderen. Wir neigen heuten dazu, die einfache Lösung zu wählen: Nicht mehr darüber reden, statt den Missstand wirklich ändern.

Das ist ein häufiger Vorwurf an Identitätspolitik: Dass sie ausschließend wirkt, Gesellschaft eher fragmentiert und tatsächlich vorhandene Ungleichheiten kaum verbessert werden – oder nur für eine ganz bestimmte, akademische Klientel. Teilen Sie das?
Es ist natürlich wichtig, zu sagen, wo die roten Linien sind. Rassismus muss klar benannt werden. Aber es darf keine roten Minenfelder geben, auf denen alle Angst haben, überhaupt über ein Thema zu sprechen. Es ist besser, offen über Rassismen zu sprechen, statt sich das nicht mehr zu trauen und sich dafür im Kopf einen ganz eigenen Film zurechtzulegen.

Zum Beispiel?
Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich: Auch das Wort Jude ist auf eine Art tabuisiert. Es wird einerseits als Schimpfwort genutzt, andererseits trauen sich Menschen kaum, es vor mir auszusprechen. Manchmal geht es mir sogar selbst so, ich habe das verinnerlicht. Stattdessen heißt es dann oft „jüdische Mitbürger“ oder „jüdischer Mensch“……

Sie hatten das Wort gerade selbst genutzt.
Ja, sehen Sie! Aber ich bin Jude. Punkt. Das ist letztlich auch ein vermintes kommunikatives Gelände. Aber ist das gut? Nein! Wir brauchen nicht mehr davon, sondern weniger. Es gibt Menschen, die sind nicht in Vielfalt aufgewachsen, die haben nie einen Juden gesehen, haben keine migrantischen Freunde. Sie sind überfordert davon, mit Menschen mit arabischem oder russischem Namen umzugehen.

Warum wird diese Debatte um Identitätspolitik so emotional geführt? Woher kommt dieser teils missionarische Eifer auf beiden Seiten?
Ich bin ja selbst aus der SPD ausgetreten wegen Thilo Sarrazin. Das ist für mich übrigens der Unterschied zwischen einer roten Linie und einem – in diesem Fall buchstäblich – roten Minenfeld: Sarrazins Thesen über Muslime waren klar rassistisch. Was beispielsweise Wolfgang Thierse kürzlich zum Thema Identitätspolitik geschrieben hatte, war etwas anderes: Er hat eine bestimmte Art von Politik in Frage gestellt, ihre Ausrichtung und Wirkmächtigkeit.

Der SPD-Politiker hatte kritisiert, dass die Debatten über Postkolonialismus und Gender immer aggressiver würden und Identitätspolitik Gräben aufreiße, die den Gemeinsinn stören.
Ja, solche Gedanken müssen in jeder Partei möglich sein. Bei mir schlagen zwei Herzen in der Brust: Ich bin einerseits Teil einer Minderheit – sogar mehrerer Minderheiten. Andererseits bin ich Verfassungsjurist: Für mich hält unsere Gesellschaft zusammen, das liberal-demokratische Verständnis unserer diskursiven Freiräume. Wir müssen bestimmte Sachen aushalten können. Und zwar wir alle. Berechtigte Befindlichkeiten sind dafür ein Korrektiv, aber kein Ersatz. Manche halten das für einen kalten Verfassungsliberalismus. Aber gerade aus dieser Kälte heraus ist unsere Demokratie möglich.

Warum wird diese Debatte gerade so erhitzt geführt?
Oft wird aneinander vorbeigeredet. Ich halte nichts davon zu sagen, Minderheiten sollten keine Befindlichkeiten haben und sich leise integrieren. Selbstverständlich ist Rassismus real, genauso wie Hass auf Homosexuelle. Die Mehrheitsgesellschaft muss Rücksicht nehmen. Andererseits müssen sich auch Angehörige von Minderheiten überlegen, wie sie ihre Sorgen kommunizieren: Durch eine niedrigschwellige Vermittlung von Perspektiven, ohne jemanden für Fehler anzuklagen. Die einen haben also eine Vermittlungsaufgabe, die anderen eine Verständnisaufgabe. Beide scheitern momentan.

Auf der Bundestagsliste der Berliner Grünen stehen genau zwei Personen mit Migrationshintergrund, auf Platz acht und Platz 20. Scheitert ihre Partei gerade an eigenen Maßstäben?
Die Grünen sind eine weiße Partei. Aber welche Partei in Deutschland ist das nicht? Wir sind erst am Anfang der Emanzipation der Vielfalt in unserem Land. Man kann sich darüber empören. Aber wenn es schwierig ist, gute Kandidatinnen und Kandidaten mit Migrationshintergrund zur Kandidatur zu bewegen, dann zeigt mir das auch, dass wir noch nicht dort angekommen sind, wo wir sein wollen.

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